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OWEP 1/2022: Serbien: Ein Land in der Sackgasse?

Serbien hat – das muss man leider gleich zu Beginn festhalten – in Deutschland einen schlechten Ruf. Anders als etwa Kroatien und Slowenien, die viele Deutsche als Reiseziele kennen, wird der größte Nachfolgestaat Jugoslawiens bis heute vor allem mit den Kriegen der 1990er Jahre in Verbindung gebracht; wer noch weiter in die Geschichte zurück geht, stößt unweigerlich auf das Attentat von Sarajevo 1914 und den Beginn des Ersten Weltkriegs, was wiederum Serbien angelastet wird. Auch wenn viele Fakten stimmen, sollte man sich dennoch vor einseitigen Klischees hüten. Es ist sicher angebracht, genauer hinzusehen, und das möchte das vorliegende Heft „Serbien: Ein Land in der Sackgasse?“ versuchen.

Eröffnet wird das Heft mit zwei Beiträgen zur aktuellen politisch-gesellschaftlichen Lage des Landes. Für den 3. April 2022 sind in Serbien Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorgesehen, außerdem Kommunalwahlen in der Hauptstadt Belgrad. Nikola Burazer, Programmdirektor am Zentrum für zeitgenössische Politik in Belgrad und Chefredakteur des Webportals „European Western Balkans“, beschreibt das zersplitterte Parteiensystem und kommt zu dem Ergebnis, dass sich aller Voraussicht nach an der jetzigen Regierung unter Führung der mitte-rechts ausgerichteten Serbischen Fortschrittspartei (SNS) nichts ändern wird. Herausragender Protagonist der SNS ist Staatspräsident Aleksandar Vučić, der seit zwanzig Jahren in verschiedenen Positionen die Politik des Landes entscheidend geprägt hat. Der in Belgrad lebende deutsche Journalist Thomas Roser zeichnet in seinem Porträt den Werdegang Vučićs nach.

Viele Beobachter sehen die Entwicklung der serbischen Demokratie kritisch, zumal das Regierungssystem sich immer stärker in Richtung eines autoritären Systems entwickelt. Maßstab dafür ist der Grad der Presse- und allgemein der Medienfreiheit. Gemma Pörzgen, OWEP-Chefredakteurin, war im September 2021 auf Reportagereise in Serbien und hat sich vor Ort ein Bild gemacht. Ihr Fazit ist ernüchternd: Es gibt „nur noch kleine Inseln der Medienfreiheit“. Mediales Aufsehen weltweit erregte kürzlich die Affäre um den Tennis-Weltranglistenersten Novak Đoković, der wegen seines unklaren Impfstatus aus Australien ausgewiesen und von den serbischen Medien zum Märtyrer stilisiert wurde. Entsprechend informiert Thomas Roser in einem zweiten Text kurz über die Hintergründe des serbischen „Opfermythos“.

Drei Beiträge des Heftes befassen sich mit der Rolle Serbiens innerhalb der Gruppe der Westbalkanstaaten (d. h. der Staaten des ehemaligen Jugoslawiens ohne Slowenien und Kroatien, aber zusätzlich mit Albanien). Dr. Dušan Reljić, Südosteuropa-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), widmet sich dem Problem, dass Serbien trotz vieler Bemühungen bis heute keine klare Beitrittsperspektive zur Europäischen Union hat, was im Land zu Verbitterung führt und Ursache für die Zuwendung zu autoritär geprägten Staaten wie z. B. Russland ist. Das Verhältnis Serbiens zum quasi autonomen Gebiet Kosovo ist bis heute von starken Spannungen geprägt, die immer wieder in bewaffneten Auseinandersetzungen eskalieren. Der in Belgrad lebende kosovarische Journalist Idro Seferi vermittelt in seinem Beitrag einen Eindruck der aktuellen Situation. Die an der Universität Wien tätige Historikerin Dr. Jelena Đureinović befasst sich in ihrem Essay „Erinnerung an die Kriege der 1990er Jahre“ mit der grundsätzlichen Frage, ob Serbien sich der Verantwortung für die Konflikte mit den Nachbarn stellt. Ihrer Analyse zufolge nimmt die Tendenz zu, Serbiens Täterrolle (etwa beim Massaker von Srebrenica 1995) zu verharmlosen und stattdessen die eigene Opferrolle zu betonen.

Belgrad ist eine Stadt der Graffiti – zahllose Wandbilder mit Prominenz aus Politik, Kultur und Sport lockern die Häuserwände auf. Sie sind nicht nur Ausdruck der Sympathie für die dargestellten Personen, sonders können auch Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden, so etwa ein Graffito des als Kriegsverbrecher verurteilten bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladić. Gemma Pörzgen bietet in ihrem Beitrag über „Belgrader Straßenhelden“ anhand zahlreicher Beispiele einen Überblick über diese alternative Kunstszene.

Den Kirchen kommt in Serbien traditionsgemäß eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zu, besonders der Serbischen Orthodoxen Kirche, die die Geschichte des Landes wesentlich mitgeprägt hat. Zahlenmäßig klein (ca. 5 Prozent der Bevölkerung), aber von nicht unerheblichem Einfluss ist auch die römisch-katholische Kirche, die zudem die Kirche vieler nationaler Minderheit bildet (u. a. in der Vojvodina). Zwei Texte des Heftes befassen sich mit diesem Themenfeld. Jelena Jorgačević Kisić, Doktorandin an der Universität Regensburg, stellt Erzbischof Stanislav Hočevar SDB vor, den katholischen Oberhirten von Belgrad, einen „Brückenbauer auf schwierigem Terrain“. Miodrag Sorić, Chefkorrespondent der Deutschen Welle in Bonn, befasst sich mit der Lage der serbischen orthodoxen Christen in der deutschen Diaspora.

Die Wirtschaft Serbiens hat die Corona-Pandemie erstaunlich gut überstanden. Dennoch gibt es, wie Prof. Dr. Danica Popović, Professorin für Wirtschaft an der Universität Belgrad, schreibt, Alarmzeichen wie etwa eine steigende Inflation und Staatsverschuldung. Ihr Beitrag vermittelt auch wichtige Einblicke zu Themen wie Arbeitsmarkt, Geldpolitik und Außenhandel.

Zwei weitere Artikel im Heft hat Gemma Pörzgen im Rahmen ihrer Reise verfasst. Ein Beitrag gilt einem Großprojekt in Belgrad, das von der serbischen Regierung stark gefördert wird: Am Save-Ufer entsteht eine Art „serbisches Manhattan“. Gegen das Projekt, für das bereits zahlreiche Altbauten geopfert wurden, haben sich bereits Bürgerinitiativen gebildet. Der zweite Beitrag stellt kurz Novi Sad vor, Serbiens zweitgrößte Stadt und eine der drei europäischen Kulturhauptstädte des Jahres 2022 (neben Kaunas in Litauen und Esch-sur-Alzette in Luxemburg), und wirft Streiflichter auf das Kulturleben Serbiens (u. a. Museen und Ausstellungen).

Abgeschlossen wird das Heft mit Hinweisen zu weiterführender Lektüre.

Einen Kurzclip zur Ausgabe 1/2022 finden Sie ­hier.

Ein Ausblick auf Heft 2/2022, das Ende April erscheinen wird: Unter dem Titel „Sinnsuche im 21. Jahrhundert: Glaube und Zweifel“ vereint es Beiträge mit theologisch-philosophischem Kern, in denen klassische Modelle der Sinngebung vorgestellt werden, wirft aber auch einen Blick auf säkulare Formen von Sinngebung wie Führerkult oder Konsum. Zu Wort kommen auch Menschen, die ihren ganz persönlichen Weg zu einem sinnerfüllten Leben beschreiben.

Das ausführliche Inhaltsverzeichnis und ein Beitrag im Volltext finden sich unter www.owep.de. Das Heft kann für € 6,50 (zzgl. Versandkosten) unter www.owep.de bestellt werden.