Sergej Tschapnin zu den Protesten gegen Kirchenbauten
20. Juni 2019
Im Mai haben in Jekaterinburg Einwohner gegen den Bau einer Kirche in einem Park im Zentrum der Stadt protestiert. Es ist nicht der erste Fall dieser Art; was bringt diese Menschen so auf? Weshalb protestieren sie gegen neue Kirchen?
Massenproteste gegen den Bau neuer orthodoxer Kirchen in Russland sind eine vergleichsweise neue Erscheinung im gesellschaftspolitischen Leben. Dabei ist unter den Protestierenden ein recht bedeutender Prozentsatz von Personen, die sich selbst als orthodox bezeichnen. Sie betonen, ihr Protest sei nicht antikirchlich, sondern rein situativ. Sie stellen sich gegen den Bau an diesem konkreten Ort.
Einerseits braucht es neue Kirchen in den großen Städten. Ein großes, gutes Stück Land zu erhalten ist aber praktisch unmöglich. In den architektonischen Plänen zur Stadtentwicklung sind keine neuen Kirchen angelegt, das heißt, dass in den Wohnquartieren ein punktueller Ausbau betrieben werden muss. Zudem ziehen es lokale Behörden vor, gute Grundstücke für den Bau von Einkaufszentren oder neue Wohnblocks abzugeben, weil diese Einkünfte bringen, eine Kirche aber nicht.
Für Kirchen stellt die Stadtverwaltung üblicherweise problematische Grundstücke zur Verfügung, in Parks, auf Plätzen, in den Höfen von Häusern oder auf Brachen, auf denen beispielsweise schon ein Parkplatz ist. Alle diese Varianten sind Quellen eines potentiellen Konflikts zwischen der Kirche und der lokalen Bevölkerung.
Das erste Problem ist, dass die Einwohner die neue Kirchgemeinde als fremd wahrnehmen. Und man kann sie verstehen: die Logik des Baus neuer Kirchen steht Kopf. Man sollte meinen, dass man zuerst die Interessen und Bedürfnisse der Gemeinde selbst berücksichtigen sollte. Wenn sie neu ist, kann sie sich in der ersten Zeit in einem beliebigen Gebäude versammeln. Sie kann beispielsweise an den Sonntagen einen Saal mieten. Dieser Zustand kann auch jahrelang andauern, da ist nichts Schlimmes daran. Die Einwohner lernen in dieser Zeit den Geistlichen kennen, er kann sich seine Autorität verdienen. Es kann auch sein, dass die Gemeinde entscheidet, dass sie ein eigenes Kirchengebäude gar nicht braucht, und wenn doch, dann kann sie in Ruhe einen Platz auswählen.
Leider kommt das äußerst selten vor. Kirchen werden meistens „von oben“ gebaut, gemäß einer Einigung zwischen der Eparchie und der Stadtverwaltung. Die Situation ist sowohl in Moskau, wie auch in Jekaterinburg und vielen anderen Städten Russlands anders. Es gibt Behörden, die bereit sind, ein Grundstück rein formal, aber ohne Rücksicht auf die lokalen Gegebenheiten zur Bebauung abzugeben. Es gibt Sponsoren, die zu Geldinvestitionen bereit sind. Es gibt Kirchenleitungen, die jede Kirche als Quelle zusätzlicher Einkünfte, als Verkaufsstelle, betrachten. Die Interessen der Gemeinde stehen hier im besten Fall auf dem letzten Platz.
Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es der Gemeinde angenehmer wäre, in einer kleinen Kirche zu beten. Und das muss überhaupt nicht zwingend ein eigenes Gebäude sein. Die Gemeindemitglieder sind oft nicht reich und können eine Kirche nicht selbst unterhalten. Gigantische Kirchen sind meist ein Denkmal für die Ambitionen des Sponsors und kein Gotteshaus.
Das zweite Problem ist die niedrige Qualität der architektonischen Entwürfe. Von den neuen Kirchen in den Städten sind die wenigsten schön. Ich denke, das ist ebenfalls ein wichtiger Faktor. Wenn der Entwurf für die Kirche schön wäre, wenn er das Auge erfreuen würde, wenn er eine echte Verschönerung der Stadt wäre, dann gäbe es bedeutend weniger Proteste. Der Millionär Igor Altuschkin, der Sponsor des Kirchenbaus in Jekaterinburg, engagierte für die Projektierung des Büros seines wichtigsten Assets – das Russische Kupferunternehmen (RMK) – einen Architekten von internationalem Ruf: Norman Foster. Das Kirchenprojekt gab er jedoch bei drittklassigen lokalen Architekten in Auftrag.
Das dritte Problem ist der gesellschaftspolitische Kontext. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten entstehen seit den letzten Jahren v.a. an der Basis: In verschiedenen russischen Städten vereinen sich die Einwohner zum Schutz ihres Hofes, ihrer Straße, ihres Viertels. Die Korruption überschreitet alle vernünftigen Grenzen. Immobilienentwickler tun in Absprache mit lokalen Behörden buchstäblich, was sie wollen. Und das hat mit der orthodoxen Kirche gar nichts zu tun – die Einwohner protestieren auch gegen den Bau neuer Villen anstelle historischer Gebäude oder gegen den Rauswurf von Kulturzentren für Kinder aus Gebäuden im Stadtzentrum, an denen Investoren Gefallen gefunden haben. Der Bau von Kirchen ist ein Spezialfall.
Wie verhält sich die Russische Orthodoxe Kirche in diesen Fällen? Gibt es Strategien, sich mit den Demonstranten zu einigen oder sie zu überzeugen?
Leider verhält sich die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) bei diesen Protesten meist unangemessen. Statt eines ruhigen und freundlichen Gesprächs setzen die Vertreter der Kirche Druck und sogar Provokationen ein. Die Bewegung Sorok sorokov betrachtet sich als zivilgesellschaftliche Organisation orthodoxer Bürger und ist formal nicht mit der offiziellen Kirche verbunden, aber ihre Mitglieder beteiligen sich aktiv an Konflikten an Standorten neuer Kirchen in Moskau, indem sie auf der Seite der Kirche gegen die lokalen Einwohner auftreten. In Jekaterinburg mischten sich Kämpfer der Kampfsportakademie des RMK physisch in die Konfrontation mit den Anwohnern ein.[1] Die Kirche zieht sich langsam und widerwillig zurück, wenn die Konflikte ins Stadium von Massenprotesten übergehen und in den landesweiten Medien ein Echo finden.
Patriarch Kirill äußerte seine Meinung zum Konflikt in Jekaterinburg spät, einen Monat nach seinem Beginn. Seine Worte, dass die Aktionen der Anwohner geplant gewesen und „Gegenstand eines Kampfes, und zwar eines politischen“ geworden seien, riefen Befremden hervor. Dabei ist der spontane Charakter des Protests offensichtlich und es wurden keinerlei politische Forderungen gestellt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Worte des Patriarchen ein Versuch waren, das ungeschickte Vorgehen der Jekaterinburger Metropolie zu rechtfertigen. In diesem Konflikt sahen die Vertreter der Kirche unvorteilhaft und arrogant aus. Und es ist keine Überraschung, dass die Kirche in diesem Konflikt verloren hat.
Welche Kommunikationsstrategien setzt die Russische Orthodoxe Kirche für den Dialog mit den Gläubigen und anderen Bürgern ein?
Leider gibt es heute in der ROK keine realen Kommunikationsmittel für den Dialog mit der Zivilgesellschaft. In der Mehrheit der Fälle zieht es die ROK vor, aus einer Position der Stärke heraus zu handeln und sich hinter ihren Vereinbarungen mit staatlichen Behörden zu verstecken. Die Ereignisse in Jekaterinburg haben leider wieder einmal gezeigt, dass die Autorität der ROK in der aktuellen russischen Gesellschaft rapide sinkt.
Sergej Tschapnin, ehemaliger Hauptredakteur des „Journals des Moskauer Patriarchats“.
Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.
Massenproteste gegen den Bau neuer orthodoxer Kirchen in Russland sind eine vergleichsweise neue Erscheinung im gesellschaftspolitischen Leben. Dabei ist unter den Protestierenden ein recht bedeutender Prozentsatz von Personen, die sich selbst als orthodox bezeichnen. Sie betonen, ihr Protest sei nicht antikirchlich, sondern rein situativ. Sie stellen sich gegen den Bau an diesem konkreten Ort.
Einerseits braucht es neue Kirchen in den großen Städten. Ein großes, gutes Stück Land zu erhalten ist aber praktisch unmöglich. In den architektonischen Plänen zur Stadtentwicklung sind keine neuen Kirchen angelegt, das heißt, dass in den Wohnquartieren ein punktueller Ausbau betrieben werden muss. Zudem ziehen es lokale Behörden vor, gute Grundstücke für den Bau von Einkaufszentren oder neue Wohnblocks abzugeben, weil diese Einkünfte bringen, eine Kirche aber nicht.
Für Kirchen stellt die Stadtverwaltung üblicherweise problematische Grundstücke zur Verfügung, in Parks, auf Plätzen, in den Höfen von Häusern oder auf Brachen, auf denen beispielsweise schon ein Parkplatz ist. Alle diese Varianten sind Quellen eines potentiellen Konflikts zwischen der Kirche und der lokalen Bevölkerung.
Das erste Problem ist, dass die Einwohner die neue Kirchgemeinde als fremd wahrnehmen. Und man kann sie verstehen: die Logik des Baus neuer Kirchen steht Kopf. Man sollte meinen, dass man zuerst die Interessen und Bedürfnisse der Gemeinde selbst berücksichtigen sollte. Wenn sie neu ist, kann sie sich in der ersten Zeit in einem beliebigen Gebäude versammeln. Sie kann beispielsweise an den Sonntagen einen Saal mieten. Dieser Zustand kann auch jahrelang andauern, da ist nichts Schlimmes daran. Die Einwohner lernen in dieser Zeit den Geistlichen kennen, er kann sich seine Autorität verdienen. Es kann auch sein, dass die Gemeinde entscheidet, dass sie ein eigenes Kirchengebäude gar nicht braucht, und wenn doch, dann kann sie in Ruhe einen Platz auswählen.
Leider kommt das äußerst selten vor. Kirchen werden meistens „von oben“ gebaut, gemäß einer Einigung zwischen der Eparchie und der Stadtverwaltung. Die Situation ist sowohl in Moskau, wie auch in Jekaterinburg und vielen anderen Städten Russlands anders. Es gibt Behörden, die bereit sind, ein Grundstück rein formal, aber ohne Rücksicht auf die lokalen Gegebenheiten zur Bebauung abzugeben. Es gibt Sponsoren, die zu Geldinvestitionen bereit sind. Es gibt Kirchenleitungen, die jede Kirche als Quelle zusätzlicher Einkünfte, als Verkaufsstelle, betrachten. Die Interessen der Gemeinde stehen hier im besten Fall auf dem letzten Platz.
Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es der Gemeinde angenehmer wäre, in einer kleinen Kirche zu beten. Und das muss überhaupt nicht zwingend ein eigenes Gebäude sein. Die Gemeindemitglieder sind oft nicht reich und können eine Kirche nicht selbst unterhalten. Gigantische Kirchen sind meist ein Denkmal für die Ambitionen des Sponsors und kein Gotteshaus.
Das zweite Problem ist die niedrige Qualität der architektonischen Entwürfe. Von den neuen Kirchen in den Städten sind die wenigsten schön. Ich denke, das ist ebenfalls ein wichtiger Faktor. Wenn der Entwurf für die Kirche schön wäre, wenn er das Auge erfreuen würde, wenn er eine echte Verschönerung der Stadt wäre, dann gäbe es bedeutend weniger Proteste. Der Millionär Igor Altuschkin, der Sponsor des Kirchenbaus in Jekaterinburg, engagierte für die Projektierung des Büros seines wichtigsten Assets – das Russische Kupferunternehmen (RMK) – einen Architekten von internationalem Ruf: Norman Foster. Das Kirchenprojekt gab er jedoch bei drittklassigen lokalen Architekten in Auftrag.
Das dritte Problem ist der gesellschaftspolitische Kontext. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten entstehen seit den letzten Jahren v.a. an der Basis: In verschiedenen russischen Städten vereinen sich die Einwohner zum Schutz ihres Hofes, ihrer Straße, ihres Viertels. Die Korruption überschreitet alle vernünftigen Grenzen. Immobilienentwickler tun in Absprache mit lokalen Behörden buchstäblich, was sie wollen. Und das hat mit der orthodoxen Kirche gar nichts zu tun – die Einwohner protestieren auch gegen den Bau neuer Villen anstelle historischer Gebäude oder gegen den Rauswurf von Kulturzentren für Kinder aus Gebäuden im Stadtzentrum, an denen Investoren Gefallen gefunden haben. Der Bau von Kirchen ist ein Spezialfall.
Wie verhält sich die Russische Orthodoxe Kirche in diesen Fällen? Gibt es Strategien, sich mit den Demonstranten zu einigen oder sie zu überzeugen?
Leider verhält sich die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) bei diesen Protesten meist unangemessen. Statt eines ruhigen und freundlichen Gesprächs setzen die Vertreter der Kirche Druck und sogar Provokationen ein. Die Bewegung Sorok sorokov betrachtet sich als zivilgesellschaftliche Organisation orthodoxer Bürger und ist formal nicht mit der offiziellen Kirche verbunden, aber ihre Mitglieder beteiligen sich aktiv an Konflikten an Standorten neuer Kirchen in Moskau, indem sie auf der Seite der Kirche gegen die lokalen Einwohner auftreten. In Jekaterinburg mischten sich Kämpfer der Kampfsportakademie des RMK physisch in die Konfrontation mit den Anwohnern ein.[1] Die Kirche zieht sich langsam und widerwillig zurück, wenn die Konflikte ins Stadium von Massenprotesten übergehen und in den landesweiten Medien ein Echo finden.
Patriarch Kirill äußerte seine Meinung zum Konflikt in Jekaterinburg spät, einen Monat nach seinem Beginn. Seine Worte, dass die Aktionen der Anwohner geplant gewesen und „Gegenstand eines Kampfes, und zwar eines politischen“ geworden seien, riefen Befremden hervor. Dabei ist der spontane Charakter des Protests offensichtlich und es wurden keinerlei politische Forderungen gestellt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Worte des Patriarchen ein Versuch waren, das ungeschickte Vorgehen der Jekaterinburger Metropolie zu rechtfertigen. In diesem Konflikt sahen die Vertreter der Kirche unvorteilhaft und arrogant aus. Und es ist keine Überraschung, dass die Kirche in diesem Konflikt verloren hat.
Welche Kommunikationsstrategien setzt die Russische Orthodoxe Kirche für den Dialog mit den Gläubigen und anderen Bürgern ein?
Leider gibt es heute in der ROK keine realen Kommunikationsmittel für den Dialog mit der Zivilgesellschaft. In der Mehrheit der Fälle zieht es die ROK vor, aus einer Position der Stärke heraus zu handeln und sich hinter ihren Vereinbarungen mit staatlichen Behörden zu verstecken. Die Ereignisse in Jekaterinburg haben leider wieder einmal gezeigt, dass die Autorität der ROK in der aktuellen russischen Gesellschaft rapide sinkt.
Sergej Tschapnin, ehemaliger Hauptredakteur des „Journals des Moskauer Patriarchats“.
Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.
[1] https://meduza.io/feature/2019/05/13/stolknoveniya-protivnikov-i-storonnikov-stroitelstva-hrama-v-ekaterinburge-glavnoe.
Bild: Im kleinen Oktoberpark direkt neben dem Dramatheater sollte die Katharinen-Kathedrale gebaut werden. (©Vladislav Falschivomonettschik, Wikimedia Commons)