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Vsevolod Tschaplin – ein umstrittener Kirchenmann

06. Februar 2020
Der Ende Januar überraschend an einem Herzinfarkt verstorbene Vsevolod Tschaplin war zweifellos eine prägende und schillernde Figur des Moskauer Patriarchats im letzten Jahrzehnt. Der 51-jährige Erzpriester war ein langjähriger Mitarbeiter von Patriarch Kirill (Gundjaev), hielt sich aber auch mit Kritik an dessen Kirchenleitung nie zurück. Deshalb wurde er 2015 von seinem Amt als Leiter der Synodalabteilung für Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft, der er von 2009 bis 2015 vorgestanden hatte, abgesetzt.

Tschaplin hatte zuvor mehrfach die zunehmende Nähe des Patriarchen zum Staat kritisiert, mehr Transparenz gefordert (insbesondere hinsichtlich der Kirchenfinanzen) und 2014 im Gegensatz zu Kirill die Unterstützung pro-russischer Kräfte in der Ukraine öffentlich befürwortet. Auf den Tod Tschaplins reagierte der Patriarch lediglich mit einer kurzen Erklärung, in der es heißt: „Möge ihm der Herr seine wissentlichen und unwissentlichen Übertretungen vergeben und ihm ewiges Gedenken gewähren.“ Dass der Patriarch sich in keinerlei Weise an der Totenliturgie beteiligte, spricht laut Sergej Tschapnin, dem gleichzeitig mit Tschaplin Ende 2015 entlassenen ehemaligen Chefredakteur des Journals des Moskauer Patriarchats, Bände.

Als Leiter der Synodalabteilung für Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft hatte Tschaplin seit 2009 immer wieder für Schlagzeilen gesorgt: So sprach er sich für eine nationale züchtige Kleiderordnung aus (weil Frauen im Minirock angeblich eine Vergewaltigung provozierten). Homosexualität bezeichnete er als sexuelle Perversion und den Auftritt von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale als hart zu bestrafende Blasphemie. Den Ämtertausch von Vladimir Putin und Dmitrij Medvedev 2011 begrüßte er als „Beispiel für Moral in der Politik“. Tschaplin rechtfertigte den Reichtum der Kirche und unterstützte die Idee orthodoxer Bürgerwehren zum Schutz von Gotteshäusern. Das militärische Eingreifen Russlands in Syrien bezeichnete Tschaplin als „friedensstiftende Operation“, und er sprach sich für die Todesstrafe für Terroristen aus. Krieg könne für die Aufrüttelung einer satten Konsumgesellschaft auch eine gute Sache sein.

Außerdem begrüßte Tschaplin das sog. NGO-Agenten-Gesetz zwecks Schutz vor „uns fremden politischen Ideologemen“, wie sie seiner Ansicht der Europäische Menschenrechtsgerichtshof vertritt. Das Kopieren fremder Ideologien habe schon einmal zur Revolution von 1917 geführt, deshalb müsse Russland jetzt seine eigene Gesellschaftskultur aufbauen, die nicht auf der antichristlichen Idee der Zivilgesellschaft, sondern der orthodoxen Vorstellung der Gesellschaft als einer Familie beruhe und im Streben nach dem Reich Gottes die Monarchie impliziere, so Tschaplin. Wie der Kommunismus werde der gottlose Kapitalismus an einer moralischen Krise zugrunde gehen, während Russland mit seinen Werten der Menschheit eine „friedliche wirtschaftliche und soziale Revolution“ und einen Weg aus der Krise anbieten könne.

Auch nach seiner Entlassung als Leiter der Synodalabteilung war Tschaplin weiterhin in der Öffentlichkeit präsent. Im Radio Komsomolskaja Pravda leitete er die Sendung „Zeit des Vertrauens“, bei TV Sojuz das Programm „Kommentare der Woche“ und bei TV Spas das Programm „Ewigkeit und Zeit“. Zudem veröffentlichte er zahlreiche Bücher und war Mitglied des russischen Schriftstellerverbands. Zuletzt erschien 2019 sein Buch „Am Vorabend von Armageddon. Freiheit. Leben. Zukunft“.

2015 wurde publik, dass Tschaplin unter dem Pseudonym „Aron Schemajer“ seit 1998 einige Fantasy-Werke publiziert hatte. Die Dystopie „Mascho und die Bären“ (2014) erhielt 2015 einen Fantasy-Buchpreis für seine „Errungenschaften in der mystischen (sakralen) Fantastik“. Darin stellte Tschaplin den Zerfall Russlands dar: Er porträtierte Moskau im Jahr 2043 als Hölle einer totalitären Diktatur des Liberalismus nach einer „Großen Sexualdemokratischen Revolution“, nach der es nur noch intersexuelle Wesen gibt und „Nulltoleranz gegenüber Diskriminierung“ herrscht.

Der Bibelwissenschaftler Andrej Desnitsky wies daraufhin, dass allerdings auch die Medien zum schillernden Bild von Tschaplin beigetragen haben: „Ein Krokodil, das sich bei jeder beliebigen Gelegenheit auf einen stürzt und etwas Schreckliches sagt, und die gute Hälfte aller Neuigkeiten in Zusammenhang mit der russischen Orthodoxie waren mit seiner Person verbunden und damit, dass er mal wieder etwas Schlimmes gesagt hat.“ Als Kirchenvorsteher habe Tschaplin aber auch vielen, nicht nur gleichgesinnten Menschen geholfen, und er sei selbst bei heftigen Auseinandersetzungen immer ein interessanter, menschlicher Gesprächspartner gewesen. Letztlich handle es sich um eine von vielen Geschichten eines Menschen, den die Kirche nicht mehr gebraucht habe. Vermutlich habe er auch aus Langeweile gerne provoziert, was bei seinem ausgeprägt machistischen Publikum gut angekommen sei.

Der Politologe Aleksej Makarkin erinnerte an Tschaplins Weg von einer liberalen Perspektive auf die Orthodoxie zu einem radikalen Konservatismus, dem er auch seine Karriere geopfert habe. Dabei hätten sich seine früheren liberalen Weggefährten von ihm abgewandt, während ihn auch die kirchlichen Ultrakonservativen als ehemaligen Beamten des Patriarchats nicht in ihre Reihen aufgenommen hätten. Im Gegensatz zu vielen „Patriarchats-Beamten“ habe Tschaplin aber immer auch als Kirchenvorsteher und Priester in einer Moskauer Gemeinde im pastoralen Dienst gewirkt. Laut Makarkin steht Tschaplin exemplarisch für viele russische patriotische Intellektuelle, die sich von den Idealen der Demokratie, Liberalismus und Freiheit abwandten, nachdem sie bemerkt hatten, dass Russland die alte Einflusssphäre der Sowjetunion nicht mehr zurückerhalten würde und ein massiver Konflikt mit dem Westen entstand: „Es wäre ein Fehler zu denken, dass diese extreme Frustration nur die Geschichte von Vater Vsevolod ist.“

Dr. Regula Zwahlen ist Redakteurin der Zeitschrift „Religion & Gesellschaft in Ost und West“ und Leiterin der Forschungsstelle Sergij Bulgakov am Institut für Ökumenische Studien der Universität Fribourg.

Bild: Vsevolod Tschaplin 2014 (©The Council of the Federation of the Federal Assembly of the Russian Federation)