Aufbruch ins Ungewisse: Die Kirchen und die Proteste in Belarus
Der Tag der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020 war für die belarussische Gesellschaft ein Wendepunkt. Die beispiellosen Schlangen vor den Wahllokalen zeigten für jeden sichtbar die aufgeladene Stimmung in der Gesellschaft. Selbst jemand, der mit blockiertem Internet zuhause blieb, konnte abends und nachts den Lärm der Blendgranaten und die hupenden Autos nicht überhören. Dies war eine neue Erfahrung, und frühere Verhaltensmuster funktionierten nicht mehr. Vor dieser Herausforderung standen und stehen auch die Kirchen.
Zögerliche Reaktion der orthodoxen Kirche nach der Wahl
Nach der ersten dramatischen Nacht schwiegen sowohl die orthodoxen als auch die katholischen Führungspersönlichkeiten.[1] Der erste, der das Schweigen brach, war Patriarch Kirill von Moskau, der am Abend des 10. August Aleksandr Lukaschenka zur Wiederwahl gratulierte und ihn für die „Aufmerksamkeit für den moralischen Zustand der Menschen“ und für die „fruchtbare Kooperation der staatlichen Behörden mit dem belarussischen Exarchat“ lobte. Mit diesem Statement gab der Patriarch die Richtung vor und zeigte der verwirrten Belarussischen Orthodoxen Kirche (BOK), die dem Moskauer Patriarchat untersteht, wie sie reagieren sollte. Metropolit Pavel (Ponomarjov) folgte einerseits dem Patriarchen und veröffentlichte eine „herzliche Gratulation“ an Lukaschenka, der die „Hoffnung auf den Schutz der Souveränität, die Bewahrung des nationalen geistlichen und kulturellen Erbes, die Stärkung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stabilität“ verkörpere. „Wir glauben“, verkündete der Metropolit optimistisch, „dass die künftige Arbeit des staatlichen Systems von Belarus [...] auf der Basis ewiger spiritueller und moralischer Werte, die im Schoß der christlichen Tradition gebildet wurden, erfüllt werden wird.“
Andererseits brach Kirills Impuls die Konstruktion der Kirche, die auf hierarchischer Disziplin gründet, auf: Für viele orthodoxe Priester und Gläubige klangen die Gratulationen und Formulierungen über die fruchtbare Kooperation und das spirituelle Erbe angesichts der aktuellen Situation ungeheuerlich, wenn nicht gar zynisch. Schließlich war es am Abend des 10. August, als die Polizei mit Gummischrot auf Journalisten schoss, die über die Proteste auf der Kalvaryjskaja Straße berichteten, und als der unbewaffnete Demonstrant Aljaksandr Tarajkouskij, das erste Opfer der Polizeigewalt, bei der Puschkinskaja Metrostation von einer Blendgranate getötet wurde. Das frustrierte auch viele orthodoxe Gläubige, so dass mehrere Priester und aktive Laien in sozialen Netzwerken der Kirchenleitung widersprachen. In den sozialen Netzwerken kam es zu spontanen Diskussionen, was wir als Orthodoxe in der aktuellen Situation tun können, wenn die Stimme der Kirche, vertreten durch die Hierarchie, so deutlich das Regime unterstützt, das nicht nur die Wahlergebnisse gefälscht hat, sondern auch brutale Gewalt und Folter gegen friedliche Demonstranten anwendet.
Am Abend des 12. August initiierte eine informelle Laiengruppe von orthodoxen Frauen für den nächsten Tag ein interkonfessionelles Gebet und eine Prozession im Zentrum von Minsk, zwischen der orthodoxen und der römisch-katholischen Kathedrale. Der anonyme Aufruf dazu tauchte in sozialen Netzwerken, auf Telegram und in Viber-Chats auf und ging schnell viral. Orthodoxe und Katholiken wurden aufgefordert, Ikonen mitzubringen, Protestanten waren aufgerufen, Bibeln mitzunehmen. Am 13. August versammelten sich rund 200 Personen, darunter Katholiken mit Prozessionsfahnen, mehrere protestantische Pastoren und ein orthodoxer Priester, Alexander Schramko. Einige Personen trugen Plakate mit der Aufschrift „Wir sind gegen Gewalt“.
Die offizielle Kirchenleitung warnte indes davor, dass das angekündigte Gebet von der Kirche nicht bewilligt sei. Vor dessen Beginn drängte ein Priester der orthodoxen Kathedrale die orthodoxen Gläubigen dazu, an einen orthodoxen Gottesdienst in die Kirche zu kommen, um die Initiative in geregelte Bahnen zu lenken, während die Nicht-Orthodoxen verwirrt draußen blieben. Trotzdem gelang es der Gruppe schließlich, sich zu einem offenen Gebetskreis zu versammeln, den die protestantischen Pastoren Jaroslav Vjasovskyj und Taras Telkovskyj sowie der orthodoxe Priester Schramko leiteten. Die Prozession mit Kirchenfahnen, Ikonen und Bibeln durch das Stadtzentrum war ein aufsehenerregendes Ereignis und ein starkes Beispiel für eine religiöse Graswurzelinitiative. Die Teilnehmenden waren zugleich enthusiastisch und frustriert. Voller Begeisterung entschieden sie, das Gebet täglich abzuhalten. Frustriert waren sich jedoch von der Position ihrer Kirche, und daher richteten die orthodoxen Teilnehmerinnen einen offenen Brief an Metropolit Pavel. Unterschrieben war er von der jungen Orthodoxen Anastasia Nekraschevitsch, die leidenschaftlich ihr Leid und ihre Verärgerung über die kirchlichen Haltung mitteilte und die Hierarchen einlud, sich am nächsten Tag dem Gebet anzuschließen.
Unerwartet erschien Metropolit Pavel am nächsten Tag tatsächlich, um das Gebet in der Kathedrale abzuhalten. Obwohl dies wieder die orthodoxen Teilnehmer vom Rest der Gruppe trennte, blieb der Metropolit auch nach dem Gebet, um mit den Menschen zu reden. Die Gläubigen – mehrheitlich Frauen – beschwerten sich emotional beim Metropoliten über das Ausmaß der Repressionen und der Gewalt in Belarus, zeigten Bilder von Gefolterten auf ihren Mobiltelefonen und drückten ihre Enttäuschung über das Fehlen einer angemessenen Kirchenreaktion und Pavels persönliche Gratulation an Lukaschenko aus. Während des Gesprächs bat Metropolit Pavel die Frauen um Verzeihung dafür, dass seine „Gratulation diese schmerzhaften Gefühle und Leiden auslösen konnte“. Diese Aussage, die von den Medien in zugespitzter Form von „Metropolit Pavel bittet für Gratulation an Lukaschenka um Entschuldigung“ bis zu „Das Oberhaupt der BOK hat seine Gratulation an Lukaschenka zurückgezogen“ verbreitet wurde, wurde ihm zum Verhängnis, obwohl der Pressedienst der BOK die Statements zu bestreiten versuchte. Zudem verurteilte der Hl. Synod der BOK am 15. August, „kategorisch Gewalt, Folter, Erniedrigung, grundlose Verhaftungen, Extremismus in allen Formen [...], Lügen und Meineid“ und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass „die Regierung des Landes, die von Rechts wegen ihr Volk zu respektieren und beschützen berufen ist, die Gewalt beendet, die Stimmen der Verletzten und unschuldigen Opfer der Konfrontation hört und diejenigen, die Brutalität und Grausamkeit gezeigt haben, einem legitimen Gericht und Urteil übergibt.“ Nicht einmal der Bezug auf ungenannte „Provokateure und Anstifter, die auf eine Destabilisierung unseres Landes und Spaltung unseres Volkes abzielen“, half, die Stärke der Botschaft an das Regime zu mindern. Nachdem Metropolit Pavel am 17. August verletzte und traumatisierte Demonstranten in einem Krankenhaus besucht hatte und darauf bestand, dass die Kirche die Gewalt verurteilt, war sein Schicksal besiegelt. Nicht nur empörte sich Lukaschenka, auch der Hl. Synod der ROK entschied an seiner Sitzung vom 25. August, Pavel vom Posten des Leiters der BOK abzulösen und ihn an die Spitze der Metropolie Kuban in Russland zu stellen. Die Entwicklung Pavels von seiner anfänglichen Gratulation an Lukaschenka bis zu seinem Besuch bei den hospitalisieren Demonstranten geschah in nur einer Woche und mündete in sein Karriereende in Belarus einerseits und in wachsenden Respekt seitens der Zivilgesellschaft andererseits.
Katholische Kirche unterstützt Protestierende
Die Entwicklung seines katholischen Gegenübers, Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz, verlief weniger dramatisch, da sie von einer anderen Ausgangslage begann. Statt Lukaschenka zu gratulieren, veröffentlichte Kondrusiewicz, der immer eine gewisse Distanz zu den Staatsorganen gewahrt hatte, am 11. August einen Aufruf „anlässlich der schwierigen sozio-politischen Situation in Belarus“. Dieser verurteilte die Gewalt „aller Seiten des Konflikts“, rief zum Dialog auf und schlug vor, „sofort einen besonderen Runden Tisch“ als Alternative zu den Barrikaden zusammenzurufen. Drei Tage später veröffentlichte Kondrusiewicz einen weiteren Appell, dieses Mal nicht an „alle Seiten des Konflikts“, sondern einzig an die staatlichen Behörden. Darin aktualisierte der katholische Erzbischof seine Position und anerkannte, dass die Proteste und Demonstranten friedlich und von der „Absicht, die Wahrheit über die Präsidentenwahl vom 9. August zu kennen“ motiviert und deshalb legitim seien. Er betonte, dass es „das Recht der Menschen ist, die Wahrheit zu suchen, die für niemandes politische oder opportunistische Interessen geopfert werden darf“, und dass Grausamkeit gegen diese Menschen „eine schwere Sünde auf dem Gewissen derjenigen ist, die illegale Befehle erteilen und Gewalt ausüben.“ Wieder rief er zum Dialog auf, aber während er in seinem ersten Appell eher zu einem Ende der Barrikaden aufgerufen hatte, verschob er nun seinen Fokus mehr auf die Verantwortung der Behörden, „einen konstruktiven Dialog mit der Gesellschaft aufzunehmen, um die Gewalt zu beenden, und alle unschuldigen Bürger, die während der Massenkundgebungen verhaftet wurden, freizulassen.“
Am 21. August leitete Erzbischof Kondrusiewicz an den Mauern des Isolationszentrums an der Akrestina-Straße, die zu einem Symbol der Folter geworden ist, ein Gebet. Am nächsten Tag bat er Innenminister Juryj Karajev um ein Gespräch über die Situation der Festgenommenen und Inhaftierten. Er verlangte erstens, dass Priestern Besuche bei den Verhafteten erlaubt werden, und zweitens, dass diese freigelassen werden. Das Treffen mit dem Minister fand am 22. August statt, dem Tag von Lukaschenkas Rede in Hrodna, bei der dieser die vermeintliche Einmischung der Kirchen in die Politik kritisierte. Bei dem Treffen mit dem Innenminister äußerte sich der Erzbischof besorgt über die massenhafte Gewalt und Folter, doch der Minister bestritt die Zwischenfälle. Schließlich machte Kondrusiewicz, schon unterwegs zu einem Arbeitsbesuch nach Polen, gegenüber der Presse seiner Frustration über die Dialogversuche Luft: Während die Kirchen und die Opposition den Dialog suchten, würden ihn die staatlichen Behörden verweigern. Zudem rief er die polnische Regierung und die EU auf, eine Vermittlerrolle einzunehmen.
Daraufhin wurde Kondrusiewicz bei seiner Rückkehr die Wiedereinreise nach Belarus unter dem Vorwand verweigert, sein Pass sei ungültig. Als belarussischer Staatsbürger dürfte Kondrusiewicz eigentlich nicht daran gehindert werden, ins Land einzureisen, zumal die Behörden keine stichhaltige Erklärung für die Behandlung des Hierarchen lieferten. Es ist offenkundig, dass die verweigerte Einreise in Zusammenhang mit den Bemühungen des Erzbischofs zur Lancierung eines Dialogs zwischen Gesellschaft und Regierung steht. Kondrusiewicz hatte auch die Unterstützung anderer Religionsgemeinschaften zu gewinnen und sie zu motivieren versucht, mit vereinten Kräften Druck auf die Behörden auszuüben. Ihm gelang ein interreligiöses Gebet für die Lage in Belarus zu organisieren, an dem nicht nur Vertreter der christlichen Kirchen, sondern auch der jüdischen und muslimischen Gemeinschaft teilnahmen. Das Gebet könnte der Ausgangspunkt für den Aufbau einer Art religiösen Netzwerks sein. Allerdings geht das nicht ohne klare Unterstützung der orthodoxen Mehrheitskirche, die aber die Bedeutung des Ereignisses und der Bemühungen des Erzbischofs minderte, indem sie nur einen gewöhnlichen Priester als Vertreter zum Gebet schickte. Außerdem zeigte die offizielle orthodoxe Kirche keine Solidarität mit Kondrusiewicz, als ihm die Einreise nach Belarus verweigert wurde.
Potential der Kirchen
Der belarussische Politologe Artjom Schraibman kommt bei seinen Überlegungen zur Überwindung der aktuellen politischen Krise zum Schluss, dass die Kirchen als Plattform für einen Dialog zwischen dem Regime und der Gesellschaft dienen könnten. Doch das Schicksal der Oberhäupter der beiden größten Religionsgemeinschaften in Belarus, von Metropolit Pavel und Erzbischof Kondrusiewicz, lässt solchen Hoffnungen wenig Raum. Die Kirchen sind dem Regime nur dann willkommen, wenn sie auf seiner Seite stehen. Sobald der Grad an Loyalität sinkt und die Kirchen und deren Oberhäupter eine unabhängige Rolle zu spielen beginnen, fängt der Staat an, sie gleich wie alle anderen zivilgesellschaftlichen Institutionen zu behandeln: mit Misstrauen und Repressionen.
Nur wenn sie ihre Unabhängigkeit vom Staat vergrößern, können die Kirchen die Rolle von starken Vertretern der Zivilgesellschaft einnehmen. Die Krisensituation und die Konfrontation sind in diesem Sinn positiv für die Kirchen, da sie sie auf ihrer Suche nach einer Identität gegenüber dem Staat und der Zivilgesellschaft anspornen.
Natallia Vasilevich, Direktorin des kulturellen Bildungszentrums Ecumena in Minsk, Doktorandin an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Mitglied des Koordinierungsrats der Oppositionskandidatin Svjatlana Zichanouskaja.
Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.
[1] Zur Position der Kirchen vor den Wahlen vgl. Vasilevich, Natallia: Position der Kirchen in Belarus vor den Wahlen. NÖK 4. September 2020.
Bild: Protest in Minsk am 18. Oktober 2020 (©Homoatrox, CC BY-SA 3.0)