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„Im Vergleich zur Zivilgesellschaft sind die Kirchen noch nicht gewachsen“

12. August 2021

Vor einem Jahr begannen die Proteste gegen das Lukaschenka-Regime aufgrund der gefälschten Präsidentschaftswahl. Sie waren zu der Zeit in Minsk. Wie haben Sie die damaligen Tage erlebt?
Das war ein einmaliges Ereignis, das einerseits von dem menschlichen Leid und den Tränen sowie andererseits von Hoffnung, Solidarität und Nächstenliebe geprägt war, die man nach der Präsidentschaftswahl erleben konnte. Ich bin sehr froh, dass ich in diesen Tagen in Minsk war. Wir alle waren begeistert von der Wahlkampagne von Svjatlana Tsichanouskaja und ihren Mitstreiterinnen, weil wir in diesem Moment dachten, dass es eine realistische Möglichkeit zu einer politischen Wende gibt. Damals ließ sich das Ausmaß der Gewalt, das das Regime bereit ist anzuwenden, nicht vorausahnen.

Das Regime geht mit aller Härte gegen oppositionelle Stimmen vor. Setzt es auf eine zunehmende Eskalation?
Dies entspricht der Logik des Regimes. Grundsätzlich hat das Regime keine andere Alternative zum kurzfristigen Machterhalt. Wenn es die Zügel wieder lockerer lässt, werden die Menschen wieder lauter werden. Das Regime ist in eine Zwickmühle geraten: Es wird auf jeden Fall verlieren, oder man kann sagen, es hat schon verloren. Ich hoffe, dass das Regime nur einige Monate und nicht Jahre für sich gewinnen konnte. Momentan gibt es im System keine Menschen, die fähig sind, langfristig zu denken, oder Alexander Lukaschenka überzeugen könnten, an die Konsequenzen des eigenen Handelns zu denken.

Nicht nur im Inland werden regimekritische Stimmen verfolgt, sondern auch im Ausland, wie die Entführung der Ryanair-Maschine mit dem Journalisten Raman Pratasevitsch an Bord und die versuchte Entführung der belarusischen Olympia-Teilnehmerin Krystsina Tsimanouskaja zeigen. Wie erleben Sie die Stimmung bei Belarus*innen im Ausland?
Ich habe nicht den Eindruck, dass es dem Regime gelingt, die Belarus*innen im Ausland einzuschüchtern. Natürlich wird man nach allen diesen Fällen vorsichtiger, und diejenigen, die Verwandte in Belarus haben, wollen z. B. ihre Namen nicht veröffentlicht sehen oder wollen bei ihren Aktivitäten anonym bleiben. Aber sie werden nicht aufhören, sondern eher noch eifriger weiterkämpfen.

Anfang Juni wurde der regimekritische orthodoxe Erzbischof Artemije (Kischtschanka) von Hrodna von der Kirchenleitung abgesetzt. Setzt die Kirchenleitung der Belarusischen Orthodoxen Kirche auf eine Kooperation mit der Staatsmacht?
Das Denkmuster der Kirchenleitung ist ähnlich wie die Logik des Regimes in Belarus. Zentral ist der unbedingte Obrigkeitsgehorsam. Bestes Beispiel dafür sind die Audio-Aufnahmen von dem Gespräch der Olympionikin Krystsina Tsimanouskaja mit ihrem Trainer, in dem dieser ihr sagt: Du musst das Ganze jetzt akzeptieren, du musst mehr Demut haben. Dabei argumentiert er auch mit dem orthodoxen Glauben. Dieser besage, sei nicht so hochmütig und gehorche. Auch die Kirchenleitung wird von diesem Gedanken geleitet, dass man am besten schweigt und gehorcht. In den letzten Monaten hat die orthodoxe Kirche viele Kooperationsabkommen mit verschiedenen Ministerien, darunter mit dem Innenministerium, abgeschlossen. Zudem wurde in den letzten Tagen die Frage diskutiert, ob orthodoxe Priester in den Schulen auf dem Land, wo Lehrer fehlen, unterrichten könnten. Für die Kirche wäre das attraktiv, da sie so den erstrebten Zugang zur Schule bekommt, den sie seit Jahren anstrebt. So lässt sich die Kirche von dem Regime instrumentalisieren und erhält auch noch Privilegien in einer Situation, in der tausende Menschen leiden.

Der emeritierte katholische Erzbischof von Minsk, Tadeusz Kondrusiewicz, galt zeitweise als Symbolfigur des Protests. Mittlerweile ist es jedoch um die katholische Kirche im Land still geworden, oder täuscht der Eindruck?
Dieser Eindruck stimmt leider. Der einzige katholische Priester Viachaslau Barok, der sich laut gegen das Regime und die Gewalt ausgesprochen hat, musste nach Polen fliehen. Allerdings ist es besser, dass er ausgereist ist und von dort seine Botschaft weiter verkündet, als dass er im Gefängnis landet oder einfach wie andere katholische oder orthodoxe Priester im Land schweigt. Ich fürchte, dass die kirchlichen Funktionäre zu den letzten gehören, die sich lauthals gegen das Regime stellen. Das ist der große Unterschied zu vielen Sportler*innen, die für ihre Positionierung verhaftet und vom Regime sanktioniert wurden.

Wie nehmen die Gläubigen die Positionierung der Kirchenleitungen wahr?
Es gibt eine Diskrepanz zwischen der Kirchenleitung und den aktiven gebildeten Gläubigen, die mit der Politik der Kirchenleitung nicht einverstanden sind. Im Vergleich zur Zivilgesellschaft sind die Kirchenleitungen noch nicht gewachsen, sie sind immer noch im letzten Jahrhundert stehen geblieben. Die Zivilgesellschaft – die zivilgesellschaftlich aktiven Menschen und aktiven Gläubigen – sind schon viel weiter und bereit, sich für Menschenwürde und Menschenrechte einzusetzen.

Was gibt Ihnen trotz aller gegenwärtigen Repressionen Hoffnung, dass das Regime irgendwann zusammenbricht?
Hoffnung gibt mir einerseits das unerschrockene Wort und Handeln von Svjatlana Tsichanouskaja und unseren demokratischen Kräften. Es ist eindrücklich, mit welcher Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit sie sich für ihre Prinzipien einsetzen. Svjatlana Tsichanouskaja ist für alle Belarus*innen ein Vorbild und ein Leuchtturm, der den Kurs anzeigt. Andererseits gibt mir die Unfähigkeit des Regimes Hoffnung. Es ist sehr wichtig, jetzt Druck auf das Regime auszubauen. Die Sanktionen der EU mögen kurzfristig nicht so effektiv sein, aber sie provozieren Gegenreaktionen und dabei macht das Regime Fehler, wie die Zuspitzung der Migrationskrise an der belarusisch-litauischen Grenze zeigt. Nachdem die EU neun Monate nicht zu richtigen Sanktionen bereit war, muss sie jetzt die Skrupellosigkeit des Regimes wie die Belarus*innen an der eigenen Haut erleben und entschlossen dagegen vorgehen. Rücksicht und Angst vor skrupellosen Diktatoren und Autokraten bringen nichts, diese führen zu keiner Lösung des Problems, sondern lediglich zu dessen Eskalation. Neben der realen Unterstützung ist auch die symbolische Unterstützung wichtig, beides führt zu einer wachsenden Nervosität des Regimes und macht es für andere Akteure, die das Regime unterstützen, zunehmend toxisch.

Alena Alshanskaya, Dr., Postdoc-Forscherin am Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Bild: Protestaktion gegen Lukaschenka am 16. August 2020 in Minsk. (© Homoatrox, CC BY-SA 3.0)