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Kiew hält die Erinnerung wach

24. Februar 2022

Welche Atmosphäre herrscht in Kiew? Mit dieser sorgenvollen Frage wenden sich immer häufiger Freundinnen und Freunde aus verschiedenen Ländern der Welt an mich.

Vielleicht nicht alle drei Millionen Kiewerinnen und Kiewer, aber die Mehrheit von uns erörtert seit Beginn dieses Jahres den Inhalt eines „Notfallköfferchens“ angesichts des drohenden Kriegs: Ausweise, Medikamente, ein Essensvorrat, ein Minimum an notwendigen Kleidern im Falle einer dringenden Evakuation oder von Bombardierungen. Darüber diskutieren wir Tag und Nacht im Kreis der Familie, bei der Arbeit und in sämtlichen sozialen Netzwerken. Die angespannten Diskussionen versuchen wir mit Witzen aufzulockern, so z. B. folgender: „Forscher geben Unsummen für die Erfindung eines Kugelschreibers aus, der auch im Kosmos schreibfähig ist. Reicht es nicht, Bleistift und Messer mitzunehmen?“

Hybrider und realer Krieg

Mehr als tausend Schulen in Kiew und in anderen Städten der Ukraine haben innerhalb eines Monats anonyme Drohungen erhalten, dass die Gebäude vermint seien, so dass Notfall-Evakuationen von hunderttausenden von Schülern und Schülerinnen durchgeführt werden mussten. Es ist nicht schwer, sich den Zustand der Eltern vorzustellen, die sofort herbeigerufen wurden, um ihren Kindern beizustehen. Zudem gab es auch häufige Falschmeldungen von Bombendrohungen in der Metro. Diese Formen des hybriden Kriegs erleben wir parallel zu den Berichten über Tote und Verwundete im realen Krieg mit Russland in der Ostukraine.

Acht Jahre lang haben viele diesen Krieg nicht als solchen bezeichnet und sprachen von der „ukrainischen Krise“. Heute ist es für niemanden mehr ein Geheimnis, dass das Problem eigentlich eine „russische Krise“ des Regimes Putins ist. Die Annexion der Krim von 2014 und der Überfall auf die Städte und Dörfer im Osten der Ukraine führten zur russischen Okkupation eines Territoriums, das den Umfang von Ländern wie der Schweiz und Belgiens übersteigt. Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer sind ermordet worden, und Millionen waren gezwungen, die besetzten Gebiete zu verlassen und wurden zu Flüchtlingen.

Auf einem hohen Gebäude in Mariupol war lange Zeit von weitem das Porträt eines Mädchens namens Milana zu sehen. Eine Bombe entriss ihr 2015 ein Bein, und sie blieb nur am Leben, weil ihre Mutter sie während des Beschuss Mariupols durch russische Artillerie in Sicherheit brachte – und starb. Milana ist vor kurzem zehn Jahre alt geworden, seit sieben Jahren lebt sie nun in Kiew bei ihrer Großmutter Olga. Die Vereinigung „Kinder der Hoffnung“ hilft ihnen. Heute telefonierte ich mit Olga, sie sprach sorgenvoll von den Nachrichten ihrer Verwandten und Freunde aus Mariupol: unweit davon ist Krieg und niemand weiß, wann er die Stadt erneut treffen wird.

Menschenwürde und Widerstand

Vor kurzem habe ich (im Rahmen eines von Renovabis unterstützten Projekts) ein Gespräch über die Menschenwürde mit dem Religionswissenschaftler Igor Kozlovskij aufgezeichnet. Er hat 700 Tage und Nächte in den Kerkern von Donezk verbracht. Igor Kozlovskij erlebte zahlreiche Befragungen und Folterungen, bei denen er nicht nur physisch und psychologisch gequält wurde. Seine Peiniger versuchten, ihn zu brechen. Kozlovskijs Strategie des Widerstands hat mich erstaunt. Er erinnerte sich während der Folterungen an die Worte von Viktor Frankl (1905–1997), Neurologe und Holocaust-Überlebender, dass „das Gewissen Gott in mir“ ist. Ein solcher Zeuge ermöglicht es sogar während Folterungen, das Ganze von außen zu betrachten. Kozlovskij formuliert es so: „Du bist zerschlagen, blutüberströmt, doch plötzlich lächelst du… und sprichst in Gedanken mit dir selbst darüber, dass du den Tod nicht mehr fürchtest. Dann brechen sie dich nicht mehr, du bist nicht mehr in ihrer Macht, du hast eine Linie überschritten und hast keine Angst mehr – du hast dich selbst gesehen.

Auf einen solchen Gesprächspartner zu hören, ist heute sehr wichtig, denn in unserer Stadt wollen die Besatzer dasselbe tun, was sie schon seit acht Jahren in Donezk anrichten. Putin verbirgt seinen Wunsch nicht, auf dem Bürgermeisteramt von Kiew, und dem Unabhängigkeitsplatz, dem Majdan, die russische Flagge zu hissen. Und in die benachbarten Gebäude, deren Keller sich noch an den KGB erinnern, werden die Leute des russischen Sicherheitsdienstes FSB die Kiewer und „Gäste der Hauptstadt“ zu Befragungen und Folterungen herbeizerren. Westlichem diplomatischem Personal droht dies wohl nicht, aber für den Fall der Fälle verlassen sie Kiew jetzt. Ganz zu schweigen von den Nachrichten über sog. Verhaftungslisten mit ukrainischen Personen und in Kiew lebenden russischen und belarusischen Dissidenten, die der FSB angeblich zusammenstellen soll.

Die 150000 Mann starke russische Armee und ihre Kriegstechnik sorgen Tag und Nacht dafür, uns Angst einzuflößen und damit die grundlegenden Rechtsnormen und ethischen Regeln auszuhebeln. Der Kreml will erreichen, dass sich Europa schrittweise von seinen geliebten Prinzipien abwendet, „damit es bloß keinen Krieg gibt“.

Verbotene Erinnerung

Das Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial International in Russland hängt wesentlich mit der Eskalation der Aggression des Putin-Regimes gegenüber Kiew zusammen. Diese Tatsache fehlt in westlichen Kommentaren oft, aber sie ist zentral. Der Kreml tabuisiert den freien Zugang zu Information über die Verbrechen des Stalin-Regimes, zu Forschungen über den Holodomor und den GuLAG als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Negation der Wahrheit über Orte der Massenvernichtung wie Sandarmorch im russischen Karelien hat bereits zu Repressionen gegenüber Jurij Dmitriev und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Memorial geführt.

Putins Regime versucht den Westen davon zu überzeugen, dass das Gericht über die Verbrechen Stalins eine innere Angelegenheit Russlands sei. Das seien nicht Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern Verbrechen gegenüber den „eigenen Leuten“ (in beliebiger Quantität). Die Nicht-Verurteilung der staatlichen Verbrechen der UdSSR gibt denjenigen freie Hand, die in Moskau die Journalistin Anna Politkovskaja und den Politiker Boris Nemtsov umgebracht haben. Die Straflosigkeit der staatlichen Verbrecher ist direkt mit der politischen Amnesie verknüpft. Die Angst vor einem internationalen Gericht bestimmt bewusst und unbewusst die Sturheit des verbrecherischen Regimes.

Auch der belarusische Diktator Alexander Lukaschenka schließt das an sich gerissene Land aus der europäischen Jurisdiktion, gleichsam aus dem Raum der gesamten Menschheit aus. Der Isolationismus des neosowjetischen Regimes behauptet für sich das exklusive Recht, auf seinem Territorium ungestraft Unrecht zu begehen. Als Deckmantel für dieses Unrecht dient die Dummheit der ausländischen Kommentatoren, welche die Augen davor verschließen, was „dort bei denen“ geschieht, als ob es nicht auch „uns“ betreffen würde. Die einen negieren die Realität der einen Menschheit aus Bosheit, die anderen aus Dummheit. Die Dummheit ist dabei gefährlicher als das Böse, so sah es zumindest Dietrich Bonhoeffer.

Wie General Pjotr Grigorenko (1907–1987), Andrej Sacharow (1921–1989) und hunderte von Menschenrechtsaktivisten nennen wir die Deportation der Krimtataren im Mai 1944 unter Stalin ein Verbrechen. Eine Weiterführung dieser Repressionen ist die Verfolgung Andersdenkender nach der Annexion der Krim vor acht Jahren. Am 16. Februar wurde in Simferopol der Journalist Vladislav Jesipenko von Radio Svoboda zu sechs Jahren Haft verurteilt. Der gefälschte Prozess hätte internationale Aufmerksamkeit erregen müssen. In seiner Schlussrede sagte Vladislav Jesipenko: „Mein Großvater wurde 1937 gefoltert und erschossen. Ich habe das Gefühl, dass heute die direkten Nachfolger der Tschekisten genau dasselbe tun wie im Jahr 1937[…] Sie sperren Journalisten ein, die zu zeigen versuchen, was in Wirklichkeit auf der Krim geschieht. [… ] Wenn das so weiter geht, dann hat dieses Land keine Zukunft.“

Die Schicksale der politischen Gefangenen in den Gefängnissen der Regime Putins und Lukaschenkas werden sich nicht in Nichts auflösen, solange die internationale Gemeinschaft sich mit ihnen solidarisiert und sie nicht vergisst.

Lebendige Erinnerung

Für Millionen Bürgerinnen und Bürger der Ukraine ist die Verletzung internationalen Rechts eine Frage von Leben und Tod. Die territoriale Integrität und Souveränität des Landes ist für uns grundlegend mit der Frage der Würde jedes Menschen verbunden. Das Werk von Memorial wird nicht von der Tagesordnung verschwinden, solange der Kampf für eine freie Ukraine geführt wird, die sich an vieles erinnert und dieses Zeugnis mit der Welt teilt.

Die Ukraine trägt die „lokalen“ sowjetischen Verbrechen ans Licht des universalen Gerichts. Deswegen versucht Putins Regime sie zu vernichten und in einem Niemandsland zu begraben. Die Ukraine strebt danach, die Menschheit an die Schicksale derjenigen zu erinnern, denen es zugefallen ist, in den Bloodlands (Buchtitel von Timothy Snyder) zu leben. Das verzeihen die Kreml-Oberen der Ukraine nicht. Deshalb versuchen sie die Ukraine zu einer Geisel zu machen und sie aller möglicher Sünden zu beschuldigen. Die Archive des sowjetischen KGB sind in Russland und Belarus schon lange verschlossen, in Kiew stehen sie allen Forschenden offen.

Vor kurzem erschien in unserem Verlag „Dukh i Litera“ (Geist und Wort) die ukrainische Übersetzung des Buchs von Alexandra Popoff, einer kanadischen Forscherin russischer Herkunft: „Vasily Grossman and the Soviet Century“ (Yale 2019). Laut dem Mitgründer von Memorial, Arsenij Roginskij passen die antitotalitären Ideen Grossmans nicht zur offiziellen Propaganda in Russland. Grossmans Roman „Leben und Schicksal“ über die Schlacht um Stalingrad wird auch als „Krieg und Frieden“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Dieses Kunstwerk ist bei den Kiewer Universitäten und Medien gefragt, doch es stört Putins Falsifizierung der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Internationale Solidarität mit der Ukraine brauchen wir heute mehr denn je. Es geht um Unterstützung auf jede mögliche Weise: in Gedanken, mit Worten, Taten und Waffen. Großbritannien hat Kiew Flammenwerfer für den Straßenkampf in der Stadt übergeben. T. S. Elliot schrieb 1940 folgendes über die Verteidigung der Freiheit: „Wir nahmen unsere Stellungen ein und folgten den Instruktionen“ („Defence of the Islands“). Das entspricht unserer gegenwärtigen Situation.

Erlauben Sie mir zum Schluss die kühne Frage nach der Zukunft unserer Stadt, unseres Landes und unseres Europas – nach Putin und nach dem Krieg: Wann endlich werden sich das Mädchen aus Mariupol und der Philosoph aus Donezk in Kiew in Sicherheit fühlen?

Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen.

Konstantin Sigov, Direktor des „European Humanities Research Center“ und des Verlags „Dukh i Litera“ an der Universität der Kyiv-Mohyla Academy.