Zum Hauptinhalt springen

Warum habt ihr die Wahrheit Gottes vergessen?

09. Februar 2023

Offener Brief an die Bischöfe der Russischen Orthodoxen Kirche

Eure Eminenzen!

Mein Brief richtet sich an die orthodoxen Bischöfe in Russland. Mit Absicht werde ich keine Unterschriften sammeln oder irgendwelche kirchlichen Strukturen oder gesellschaftliche Organisationen auf meine Initiative aufmerksam machen, denn ich wende mich nicht an eine bischöfliche Körperschaft, nicht an die Leitung des Moskauer Patriarchats, sondern an jeden von Ihnen persönlich. Adressat meines Briefes ist ein orthodoxer Christ, der das heilige Tauf- und Mönchsgelübde abgelegt hat, zu Bischofswürde erhoben wurde und von Herzen anerkennt, dass man die Kirche nicht leiten kann ohne Christus zu lieben, Seine Wahrheit zu suchen, Ihm zu dienen, und nicht dem Kaiser.

Ich bitte nicht wie sonst üblich erst um euren Segen, das wäre ein Misston gleich zu Beginn dieser Aussprache. Meine Worte können eurerseits auf Ablehnung stoßen, Ärger oder sogar Zorn auslösen. Insofern hege ich wenig Hoffnung, dass ihr dieses Gespräch aufrichtig segnen würdet, und eine rituelle Segnung als Demonstration bischöflicher Macht bedeutet nicht viel. Wenn ihr findet, dass diese Aussprache von Bedeutung ist, dann betet einfach für mich und schreibt mir auch nur wenige Zeilen zur Antwort. Auch ich bete für euch, obwohl dies heute schwerfällt und schmerzt.

Doch ich glaube fest, dass es eine Segnung dieser Aussprache von oben gibt, und dass wir aufgerufen sind, das eine zu sagen, „was notwendig ist“ (Lk 10,42), und über unseren Glauben, über diese Liebe zu Christus zu sprechen, die ohne die Beachtung Seines Gebotes undenkbar ist: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten“ (Jh 14,23).

Es ist kein Geheimnis, dass euer Bischofsdienst zeitlich begrenzt ist. Auf das Ewige bezieht sich die Liebe zu Christus, das Bestreben, Seinem Wort zu folgen, Ihm treu und dankbar in Freude und Kummer zu sein. Ins Grab könnt ihr Brokatgewänder und eine wertvolle Panagia legen, doch Amtswürde und Titel könnt ihr nicht mitnehmen. Darüber hinaus könnt ihr euch beim Jüngsten Gericht nicht hinter eurer Amtswürde und eurem Titel verstecken.

Erschöpft vom quälend langen Warten auf euer wahrhaftiges Hirtenwort, von eurem endlosen Schweigen in Bezug auf das Wichtige, wende ich mich an euch. Und bitte versteht, dass ich die nun folgenden Worte aus einer Position der Schwäche und der Ohnmacht sage und nicht mit Kraft und vollkommener Selbstsicherheit.

Ich verstehe gut, dass die Bischöfe der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) eine große und vielschichtige Gemeinschaft bilden. Viele von euch kenne ich seit langem persönlich, wir haben zusammen gebetet und gearbeitet. Es gab Zeiten, in denen wir vertrauensvoll miteinander reden konnten. Es gab Zeiten, da wir aufeinander hörten und uns verstanden haben. Oder war das eine Illusion?

Jetzt, seitdem Russland einen Krieg gegen die Ukraine führt, verstehe ich euch definitiv nicht mehr. Ich höre aus euren Mündern nur noch Schablonen der Staatspropaganda, die in fromme Worte der kirchlichen Predigt und zweifelhafte theologische Formeln verpackt sind, die euch und eure Herde weg vom Evangelium und hin zu einem imperialen heidnischen Kult führen, in dessen sakralem Zentrum Macht, Reichtum und Gewalt stehen.

Ich denke, dass ihr Mitschuld tragt. Ich sehe, dass viele von euch das bewusst gewählt haben. Vielleicht habt ihr Angst vor dem Patriarchen, der davon träumte zum kirchlichen Doppelgänger Putins zu werden, zum alleinigen Regenten der ROK, und der dieses Ziel durchaus erfolgreich erreicht hat. Herzlosigkeit, List, Grausamkeit, Lüge – ich denke, ihr wart nicht nur einmal Zeugen davon, wie Patriarch Kirill diese Qualitäten in herausragendem Maße demonstrierte. Vielleicht habt ihr Angst vor den Sicherheitsdiensten. Ihr wisst, wie das Machtsystem in Russland funktioniert und wie gefährlich es ist, sich den Sicherheitsdiensten zu widersetzen. Sicher kommen ihre Mitarbeiter regelmäßig bei euch vorbei, um mit euch zu reden und euch zu instruieren. Kurz, ihr versteht bestens, dass jegliche abweichende Meinung in Russland strafbar ist, und wahrscheinlich haben viele von euch bereits mehrmals Geistliche bestraft, die es sich erlaubt haben, unabhängig zu denken, mit dem offiziell vorgeschriebenen Weltbild nicht einverstanden zu sein, ihm zu widersprechen und nicht zu schweigen. Das Moskauer Patriarchat verlangt von seinen Klerikern schon lange vollkommene und bedingungslose ideologische Loyalität. Diese erstickende Atmosphäre wurde zur Visitenkarte der ROK. Seltene Ausnahmen bestätigen bloß die Regel.

So hätte man noch weitere Jahrzehnte verbringen können, doch dann kam der Krieg. Und jetzt, ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffs, muss man es direkt aussprechen: Patriarch Kirill ist der erste unter denjenigen, die Kriegsverbrechen rechtfertigen. In seinen Predigten verkündet er eine „Theologie des Krieges“, verwendet Argumente, deren Widerspruch zum Evangelium und zur Lehre der Kirche zum Himmel schreien. Ich werde nicht im Detail darüber sprechen. Ihr wisst das nur gut zu und wahrscheinlich wiederholt ihr es in euren Predigten selbst regelmäßig.

Doch lasst uns mutig sein und in die Zukunft blicken. Die Jahre von Patriarch Kirills (Gundjaev) Regentschaft sind eine dunkle Seite in der Kirchengeschichte. Die kirchliche Wiedergeburt ist auf der Strecke geblieben, und heute bilden nicht mehr durch Gottes Gnade gerettete Sünder die Kirche, sondern verbitterte Festungsbauer, die einen Cocktail aus imperialen Mythen, Ressentiments und einer unvorstellbar primitiven Eschatologie mixen.

All das wäre schrecklich genug, doch auf zahlreichen Fotos steht ihr immer noch neben dem Patriarchen: ihr lächelt, nehmt seinen Segen entgegen, schenkt ihm Blumen und teure Geschenke. Noch einmal: Ihr steht neben einem Menschen, der Kriegsverbrechen rechtfertigt und die Kirche verraten hat. Ihr wiederholt seine Worte und seine verbrecherischen Argumente. Und selbst wenn ihr schweigt – kann dieses Schweigen uns zweifeln lassen, dass ihr auf seiner Seite steht? Kann euer Schweigen als versuchter Widerstand gedeutet werden? Der blutige Krieg verbaut euch diese Chance.

Wir kennen die Worte von Johannes des Theologen: „Die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht“ ( 1 Joh 4,18). Ihr habt immer noch die Chance, Zeugen und Jünger Christi zu sein, der unschuldig verurteilt wurde, litt und gekreuzigt wurde. Ich bete, dass wenigstens einige von euch die Chance nutzen, um zu euren Gelübden zurückzukehren, die ihr bei der heiligen Taufe und bei der Annahme des Mönchtums abgelegt habt.

Ich erinnere mich, wie gefährlich es vor relativ kurzer Zeit, Ende der 1980er Jahre war, über die Neumärtyrer sprechen, und nur die mutigsten und furchtlosesten Prediger wagten es, vom Altar herab an sie zu erinnern. Doch bereits Anfang der 1990er Jahre wurde dieses ideologische Tabu aufgehoben. Sicher habt auch ihr oft über die Neumärtyrer gepredigt, ihren Kraftakt des Glaubens als Vorbild dargestellt und Inspiration daraus geschöpft. Und jetzt sagt mir: Waren das nur Worte, die nichts mit euren Taten zu tun haben? Wenn ja, dann war eure Predigt heuchlerisch und falsch. Ich wünschte, ich würde mich irren.

Ich bin mir dessen bewusst, dass ich mich selbst in einer schwachen und anfechtbaren Situation befinde. Der Vorwurf, den man mir machen könnte, ist offensichtlich: „Du hast Russland verlassen, du bist jetzt in Sicherheit. Hast du also das moralische Recht, diese Vorwürfe an uns zu richten?“ Mehrfach wurde dieses Argument mit einer einzigen Absicht verwendet: den Ankläger zum Schweigen zu bringen. Nichtsdestotrotz werde ich versuchen zu antworten.

Erstens habe ich in den letzten zehn Jahren in Russland über dasselbe gesprochen. Ich habe gesprochen und werde sprechen, weil für mich die Worte über derjenigen, „die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“ (Mt 5,6) keine leeren Worte sind. Die Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit ist notwendig. Der Wunsch, sich mit Propaganda oder frommem Geschwätz von der Wahrheit abzugrenzen, führt ins Verderben. Die heutigen Kommunikationsmittel erlauben es besser als je zuvor, die Welt genauer zu sehen und das Wort der Wahrheit lauter zu sprechen. Diese Möglichkeit kann man uns nicht mehr nehmen.

Zweitens, wer hindert euch daran, auch auszureisen? Wenn ihr nicht einverstanden seid, wenn ihr die Risiken und Bedrohungen seht, die mit einem freien Ausdrücken eurer Position zusammenhängen, dann reist aus, wie es hunderttausende Bürgerinnen und Bürger Russlands getan haben. Viele unter ihnen sind orthodox, sie brauchen Priester und Bischöfe. Sie erwarten eine freie Predigt, warten auf geistliche Unterstützung. Erinnert euch daran, dass nach der Oktoberrevolution dutzende Bischöfe Russland verlassen haben und die Kirchen des russischen Auslands gegründet haben. Gegenwärtig hat das noch kein einziger getan. Das sagt viel über den Zustand der Kirche aus. Ja, eine Ausreise ist immer ein großes Risiko, doch kann man sich nicht vorstellen, dass die lokalen Kirchen euch verjagen würden, auch wenn weit nicht alle von ihnen euren Beschluss mit Respekt und Achtung akzeptieren würden. Es ist schmerzhaft sich einzugestehen, dass sich einige der orthodoxen Kirchen mit der aggressiven antiwestlichen Rhetorik von Patriarch Kirill solidarisch zeigen und sie unterstützen.

Drittens hoffe ich darauf zurückzukehren. Ich hoffe, dass die orthodoxen Christen in Russland die Möglichkeit haben werden, eine freie Kirche in einem freien Russland aufzubauen. Die große Frage ist, welche Rolle dem heutigen Episkopat zukommen wird? Sie verlieren momentan schlicht ihre Autorität und das Vertrauen. Ihr müsst zugeben, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass die neue freie Kirche solche Bischöfe schlicht nicht braucht.

Die großen Hoffnungen des Hl. Sophroni (Sacharov) von Essex gingen nicht in Erfüllung. Er sprach davon, dass die „Russische Kirche in ihren Leiden für den Namen Christi eine außergewöhnliche Hingabe ihrer selbst erfuhr“, und deshalb „steht die Russische Kirche vor der Frage der Vollkommenheit, die aus dem ewigen geistigen Gesetz hervorgeht: Die Fülle der Hingabe bereitet die Fülle der Vollkommenheit vor.“

Doch kam nach der Hingabe keine Epoche der Vervollkommnung, sondern eine Epoche der satten Selbstzufriedenheit, des materiellen Wohlergehens und des Reichtums, eine Epoche der Herzlosigkeit, Heuchelei und Machtgier. Heute befindet sich die Russische Kirche weiter von Christus entfernt, als sich das je jemand hätte vorstellen können.

Eure Eminenzen! Das schändliche, katastrophale Schweigen der Mehrheit von euch während dieses grausamen und ungerechten Kriegs Russlands gegen die Ukraine hat der ganzen Russischen Orthodoxen Kirche einen unauslöschlichen Schandfleck aufgedrückt. Lässt sich euer Verhältnis zur Ukrainischen Orthodoxen Kirche und zu Metropolit Onufrij persönlich anders als Verrat bezeichnet? Ihr habt einen bedeutsamen Teil eurer eigenen Kirche verraten und sie der Spaltung preisgegeben. Ihr habt Onufrij nicht geglaubt und habt des Patriarchen Lüge als Wahrheit angenommen. Als die russische Regierung begann, kirchliche Argumente für ihre Propaganda zu verwenden, kam euer Schweigen der Ukrainischen Kirche teuer zu stehen: Der Druck seitens des ukrainischen Staats und eines bedeutenden Teils der ukrainischen Gesellschaft war eine gesetzmäßige Reaktion auf die aktive Rolle von Patriarch Kirill und der ROK bei der Rechtfertigung der Aggression.

Die Verantwortung tragen – wenn auch nicht in gleichem Maße – nicht nur diejenigen, die die russische Aggression öffentlich unterstützt, sondern auch diejenigen, die geschwiegen haben. Der gegenwärtige russische Staat will, dass nicht nur Wirtschaft, Bildung und Kultur einen Kriegskurs einschlagen. Die Kirche, die in den vergangenen Jahren wie ein treuer Hund zu Füßen der Staatsregierung herumwedelte, muss jetzt auch diesem schrecklichen Krieg dienen.

Ich flehe euch an: Widersteht aktiv der Lüge und Unwahrheit!

Hört auf, den Krieg zu unterstützen und zu rechtfertigen!

Hört auf, Soldaten und Waffen zu segnen!

Gebt klar zu verstehen, dass Kriegsverbrecher nicht ohne Buße über die Schwelle der Kirche treten, geschweige denn die Kommunion empfangen können!

Ruft alle zum gerechten Frieden auf!

Die Russische Kirche muss neu lernen über Wahrheit, Mitleid, echte Friedensbildung, einen gerechten Frieden zu sprechen. Die Russische Kirche muss das Leiden der friedlichen Bevölkerung der Ukraine sowie die Verbrechen sehen, welche die russischen Streitkräfte auf den okkupierten Gebieten begangen haben. Sie muss sie nicht nur sehen, sondern auch anerkennen, begreifen und die Kraft finden, ihre Mittäterschaft zu bereuen. Ohne dies haben wir keine Zukunft.

Gerechtigkeit üben und Recht ist dem Herrn lieber als Schlachtopfer (Spr 21,3).

Denkt darüber nach, dass eure gegenwärtigen Opfer dem Herrn nicht gefallen könnten!

Denkt darüber nach, dass in euren Gebeten heute keine Wahrheit ist!

Und wem ihr letztlich dient? Und darüber , wer euch so, wie ihr jetzt handelt, braucht?

Sergej Chapnin, 23. Januar 2023,

Synaxis der neuen Märtyrer und Bekenner des 20. Jahrhunderts

Erstpublikation: https://publicorthodoxy.org/2023/02/06/open-letter-russian-bishops/

Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen.