„Die ukrainische Kirche wird autokephal sein und sich vereinigen“
Interview mit Serhii Shumylo
Wie hat sich die Stellung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche in der Ukraine seit 2014 entwickelt?
Die Kirchenleitung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) hat zwar den Krieg seit 2014 verurteilt, aber bis zum Beginn der russischen Großinvasion im Februar 2022 nie die Aktionen Russlands. Sie unterhielt weiterhin enge Beziehungen zum Moskauer Patriarchat und vertrat eine „neutrale Position“ gegenüber Russlands Annexion der Krim und den Versuchen, den Donbass einzunehmen. Die Kirchenleitung folgte der russischen Propaganda und bezeichnete den Konflikt als "Bürgerkrieg". Diese Haltung hat in der ukrainischen Gesellschaft und Regierung Enttäuschung ausgelöst. Zum Schlüsselmoment wurde eine Veranstaltung im ukrainischen Parlament zum Tag des Gedenkens und der Versöhnung am 8. Mai 2015, bei der die Namen der im Donbass getöteten Helden der Ukraine vom Präsidenten im Parlament verlesen wurden; während sich alle Anwesenden erhoben, blieben Metropolit Onufrij, das Oberhaupt der UOK, und seine Delegation sitzen. Nach diesem Ereignis nahm die Kritik an der UOK nochmals stark zu. Viele begannen, die mit dem Moskauer Patriarchat verbundene UOK als Instrument russischen Einflusses im hybriden Krieg im Donbass zu betrachten. Obwohl die Kirchenleitung der UOK den Separatismus offiziell nicht unterstützte, traten viele Priester und sogar Bischöfe auf der Krim und im Donbass mit offen anti-ukrainischen Appellen auf, wofür sie von der Kirchenleitung weder gerügt oder verurteilt wurden. Erst nach dem 24. Februar 2022 verurteilte Metropolit Onufrij die russische Aggression gegen die Ukraine und segnete die Gläubigen, die ihren Staat verteidigen. Einige Hierarchen schwiegen jedoch weiterhin und warteten ab, bis klar war, dass die russische Armee nicht in der Lage war, Kyjiw und den größten Teil der Ukraine einzunehmen.
Wie schätzen Sie den Beschluss der UOK zur Trennung vom Moskauer Patriarchat im Mai 2022 ein?
Metropolit Onufrij, der Patriarch Kirill wegen seiner Ansichten kritisiert hat, versuchte sich im Mai der Kontrolle durch das Moskauer Patriarchat zu entziehen, doch von einer vollständigen Trennung der UOK von der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) kann bisher nicht die Rede sein. Der Beschluss des Rates der UOK vom 27. Mai 2022 enthält diesbezüglich leider keine Aussage. Punkt 4 des Dekrets, der von „Ergänzungen und Änderungen des Statuts“ spricht und „die volle Autonomie und Unabhängigkeit der UOK“ bezeugt, klärt diese Frage nicht. Eine einfache Änderung des Wortlauts des Statuts ändert nicht wirklich viel. Gewichtiger ist der Verweis im Statut auf das Statut des Moskauer Patriarchen Alexij II. aus dem Jahr 1990, das die Wahrung der Einheit mit der Weltorthodoxie durch die Einheit mit der ROK formuliert. Solange die Beteuerungen der „Unabhängigkeit“ nicht durch ein offizielles Synodaldokument kanonischen Charakters gestützt werden, d. h. durch einen Akt des Austritts der UOK aus der ROK, der dies eindeutig erklärt, bleibt alles nur ein Wortspiel. Gleichzeitig hat die UOK die militant-fundamentalistische Ideologie der „russischen Welt“ und die Äußerungen von Patriarch Kirill nicht einmal offiziell als unorthodox verurteilt, sondern lediglich eine vage „Ablehnung“ derselben zum Ausdruck gebracht.
Welchen Status hat die UOK denn jetzt?
Meines Erachtens ähnelt der derzeitige Status der UOK in gewisser Weise demjenigen der Russischen Kirche im Ausland (ROKA), die nach der russischen Revolution von 1917 weder ihre Autokephalie noch Autonomie erklärte und sich nicht dauerhaft von der ROK abspaltete, sondern aufgrund politischer und ideologischer Differenzen 1927 vorübergehend die Beziehungen zum Moskauer Patriarchat abbrach. Metropolit Onufrij, ein Hierarch mit konservativen Ansichten, hat immer Sympathie für die ROKA empfunden. Es überrascht nicht, dass er dieses Modell der „Selbstverwaltung“ von der ehemaligen ROKA übernommen hat. Dieses Modell ermöglicht es, nach außen hin den rechtlichen Status einer völlig „unabhängigen“ kirchlichen Einrichtung zu haben. Spirituell und kirchenrechtlich wird jedoch die Einheit mit dem Moskauer Patriarchat aufrechterhalten. Man könnte dies auch eine vorübergehende, sozusagen „technische Autokephalie“ nennen. Dies ruft jedoch nicht nur in der Gesellschaft und bei den Behörden, sondern auch bei vielen einfachen Priestern und Gemeindemitgliedern der UOK großes Misstrauen gegenüber ihrer Leitung hervor.
Wie schätzen sie die Handlungen des ukrainischen Staates gegenüber der UOK in dieser Situation ein?
Leider hat die Leitung der UOK 30 Jahre lang um jeden Preis versucht, die Einheit mit Moskau zu wahren. Nun hat sich die Liebe der höchsten Hierarchen zu Moskau in eine unwiderrufliche Katastrophe für sie und die gesamte UOK verwandelt. Und die mangelnde Bereitschaft der Hierarchen, etwas zu ändern, macht die Situation noch schlimmer. Neben einem pro-ukrainischen Flügel gibt es in der UOK auch einen ziemlich pro-moskauischen Flügel, dem sowohl Priester als auch einige einflussreiche Hierarchen angehören. Trotz des Krieges Russlands gegen die Ukraine bemühen sie sich mit allen Mitteln, dem Moskauer Patriarchat treu zu bleiben, und sind Befürworter der Ideen der „russischen Welt“. Einige von ihnen erwarteten sehnsüchtig die Ankunft der „Befreier“ im Februar 2022 und bereiteten sich darauf vor, sie mit „Brot und Salz“ zu empfangen.
Vor diesem Hintergrund hat der Staat einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der religiöse Organisationen, die in Kriegszeiten mit religiösen Zentren in einem Aggressorstaat, d. h. mit Russland, verbunden sind, verbietet. Dieser Gesetzentwurf stellt eine Reihe von Problemen. Es wird behauptet, dass der Gesetzesentwurf darauf abzielt, die UOK zu verbieten. In dem Entwurf wird jedoch kein Wort über die UOK verloren. Er spricht nur von religiösen Organisationen, die mit dem Aggressorstaat verbunden sind. Wie die Verfasser erklärten, zielt ihr Gesetzentwurf nicht auf ein Verbot der UOK ab, sondern darauf, ihre Abhängigkeit von Moskau zu beenden. In der Tat ermutigt der Gesetzentwurf die UOK-Leitung, die notwendigen offiziellen Dokumente über die vollständige Abspaltung der UOK von der ROK und den Abbruch der Beziehungen zu verabschieden.
Es ist klar, dass Forderungen nach einer Auflösung der UOK durch administrative Eingriffe oder staatlichen Druck weder konstruktiv noch richtig sind. Wir müssen nach anderen Wegen und Methoden suchen, um die Probleme, die sich angesammelt haben, zu lösen. Die UOK ist eine sehr große und heterogene Kirchengemeinschaft. Es ist notwendig, dass diese Kirche aufhört, eine Trägerin russischer Ideen und Traditionen zu sein, damit sie zu einer Kirche ukrainischer Tradition wird. Es ist notwendig, dass diejenigen, die während des Krieges nicht auf der Seite ihres eigenen Volkes und Staates stehen, diese Kirche verlassen.
Ich sehe kein Problem darin, dass es in der Ukraine zwei verschiedene orthodoxe Kirchen gibt. In der Geschichte der Orthodoxie hat es ähnliche Präzedenzfälle gegeben. Aber es müssen ukrainische Kirchen sein. Nach dem 24. Februar 2022 darf es in der Ukraine keine Strukturen der ROK mehr geben, auch nicht getarnt. Leider stellen die Hierarchen der UOK durch ihre Untätigkeit und ihr Unvermögen ihre eigenen Gemeinden auf die Probe und zwingen den Staat zum Handeln. Dem Staat kommt die undankbare Rolle einer Art „Hebamme“ zu, die endlich die Nabelschnur durchtrennen muss, die bisher die UOK mit der ROK verbunden hat.
Vor kurzem haben sich Priester und Laien mit einem Appell an den Hl. Synod der UOK gewandt. Worum ging es in dem Appell?
Dieser Appell wurde von mehr als 300 Geistlichen und mehr als 1000 Gläubigen der UOK unterzeichnet. Er ist ein Schmerzensschrei der einfachen Priester und Gläubigen, die unter der Untätigkeit ihrer eigenen Hierarchen leiden und nicht hinnehmen können, wie die Kirchenleitung selbst ihre eigene Kirche ausgrenzt und zerstört. Dieser Appell enthält eine Liste von zehn Punkten. Eine Art „Fahrplan“ oder „zehn Gebote“ für die vollständige Unabhängigkeit der UOK von der ROK. Zudem bitten die Unterzeichnenden den Hl. Synod, die antikirchlichen Äußerungen und Handlungen der ROK, die traurige Tatsache der Kollaboration in den eignen Reihen sowie die Annexion einer Reihe von Eparchien der UOK in den russisch besetzten Gebieten zu verurteilen.
Der Appell fordert auch, dass der Hl. Synod der UOK den Oberhäuptern aller orthodoxen Ortskirchen ein Friedensschreiben über die Abspaltung der UOK von der ROK schickt und Verhandlungen mit den anderen Ortskirchen über die Anerkennung der vollen Autokephalie der UOK aufnimmt. Leider hat der Hl. Synod nichts dergleichen akzeptiert. Alles ist weiterhin in der Schwebe. Selbst in Bezug auf den Krieg und Putins heuchlerische pseudo-orthodoxe Politik ist der Hl. Synod der UOK nicht in der Lage, irgendwelche verständlichen Erklärungen zu verabschieden. Alles beschränkt sich auf einige zweideutige, sehr zurückhaltende und kasuistische Phrasen und Kommentare, die unterschiedlich interpretiert werden können.
Sie sind einer der Initiatoren eines Dialogs zwischen der UOK und der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU). Wer nimmt daran teil, und wie entwickelt sich der Dialog?
Auf Seiten der UOK nehmen Priester und Gemeindeglieder, die den oben erwähnten Appell unterzeichnet haben, an dem Dialog teil. Wie bereits erwähnt, ist die UOK sehr heterogen. Unter ihren mehr als 10‘000 Priestern gibt es unterschiedliche, manchmal ziemlich gegensätzliche Einstellungen. Es gibt einen deutlich ausgeprägten pro-ukrainischen Flügel im Klerus, bei dem die Unzufriedenheit mit dem offiziellen Kurs der UOK-Leitung wächst, der darauf abzielt, die Situation „einzufrieren“. Der Klerus beginnt zu verstehen, dass das 30-jährige Schisma in der ukrainischen Orthodoxie eine Folge der Einmischung und des Einflusses Moskaus in die ukrainischen Kirchenangelegenheiten ist. Es ist nicht normal, wenn die orthodoxen Ukrainer keinen Dialog, keine freundschaftlichen Kontakte und keine Einheit untereinander haben. Deshalb ist die Idee entstanden, trotz der bestehenden Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten zu versuchen, sich mit dem Klerus der OKU an einen runden Tisch zu setzen, um einander zuzuhören und zu verstehen. Auch ohne von einer Jurisdiktion in die andere zu wechseln, ist es möglich, Gemeinsamkeiten zu finden, die uns verbinden. Es gibt viel mehr, was uns verbindet, als was uns trennt.
Diesem Aufruf sind auch Priester und Gemeindemitglieder der OKU gefolgt, die ebenfalls kein Interesse an einer Konfrontation und Spaltung der ukrainischen Orthodoxie haben. Es haben bereits zwei solcher Treffen stattgefunden. Das ist eine sehr wichtige und vielversprechende Initiative. Hier manifestiert sich die Wiederbelebung der Rolle des einfachen Klerus und der Gläubigen in der Kirche, sozusagen „Sobornost von unten“, auch gegen den Widerstand einiger höherer Kirchenfunktionäre.
Bei dem letzten Treffen am 16. Februar in Kyjiw wurden weitere Wege und Grundsätze dieses Dialogs skizziert. Ich denke, dies ist ein Format, das dazu beitragen wird, das Eis in den Herzen der Geistlichen und Gläubigen beider Kirchen allmählich zu schmelzen und die Grundlage für eine künftige Einheit der orthodoxen Ukrainer zu schaffen. Dies ist der Beginn eines Heilungsprozesses. Die ukrainische Kirche wird autokephal sein und sich vereinigen. Das ist unvermeidlich. Dazu gibt es keine Alternative. Die Bewegung hin zu einer solchen Einheit hat begonnen und kann nicht aufgehalten werden
Dr. hab. Serhii Shumylo ist Kirchenhistoriker und Direktor des Internationalen Instituts für das Erbe des Athos (www.afon.org.ua) und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Ukraine der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Zurzeit arbeitet er als Gastwissenschaftler am Fachbereich für Religion und Theologie der Universität Exeter in England.
Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen.