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Im Spannungsfeld von Kirchen und Staat: Über den Konflikt in der ukrainischen Orthodoxie

06. April 2023

Thomas Mark Németh

Am 10. März 2023 wurde die im Kyjiwer Höhlenkloster angesiedelte Mönchsgemeinschaft der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) darüber informiert, dass der bisherige Nutzungsvertrag wegen unrechtmäßigen Handlungen gekündigt werde. Vorgeworfen wurden ihr illegale Bautätigkeit und Restaurierung. Der Kirchen- und Klosterleitung wurde eine Frist bis zum 29. März gesetzt, um das sich im staatlichen Eigentum befindliche Kloster zu räumen. Diese Anordnung, die derzeit für viel Diskussion sorgt, steht im Zusammenhang mit einem Ende 2022 vollzogenen Kurswechsel in der Religionspolitik der ukrainischen Staatsführung. Diese hatte sich unter Präsident Volodymyr Zelenskyj auch nach dem Beginn der Februar-Invasion weitgehend aus den langjährigen innerorthodoxen Konflikten herausgehalten. Ab Oktober änderte sich dies: Angesichts von Kollaborationsvorwürfen wurden Razzien in Einrichtungen der UOK durchgeführt, Sanktionen gegen einige ihrer Vertreter erlassen, und die Hauptkirchen des Höhlenklosters an großen Feiertagen nicht mehr der UOK, sondern der konkurrierenden OKU (Orthodoxen Kirche der Ukraine) zur Verfügung gestellt.

Die OKU war 2018/19 aus einem Vereinigungsprozess von bislang nicht anerkannten orthodoxen Jurisdiktionen (sowie zweier Bischöfe der UOK) entstanden und vom Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel als autokephal (also jurisdiktionell völlig unabhängig) anerkannt worden. Diese Entscheidung veranlasste das Moskauer Patriarchat zum Bruch der Kirchengemeinschaft mit Konstantinopel, was seitdem ein gesamtorthodoxes gemeinsames Handeln unmöglich macht. Nach der russischen Großinvasion haben sich alle Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Ukraine für die Verteidigung ihres Landes ausgesprochen: sowohl die patriotisch ausgerichtete OKU als auch die zum Moskauer Patriarchat gehörende UOK, die verschiedene Flügel, darunter auch einen pro-russischen, aufweist. Angesichts steigenden Drucks – auch aus dem eigenen Klerus – hat die UOK auf einer Kirchenversammlung (Sobor) am 27. Mai 2022 ihre faktische Loslösung von der Russischen Orthodoxen Kirche erklärt. Sie strich alle Bezüge zum Moskauer Patriarchat aus ihrem Statut – bis auf einen einzigen, der weiterhin Fragen aufwirft. Die UOK wird jedenfalls sowohl im Moskauer Patriarchat als auch in der Weltorthodoxie als ein Teil der ersteren angesehen.

Fehlende Dialogbereitschaft der Kirchenleitung
Dass die Kirchenführung der UOK auf Kollaborationsvorwürfe seitens des Staates mit Untätigkeit reagierte, sowie Verschlossenheit und fehlende Dialogbereitschaft an den Tag legte, hat ebenso zu den erwähnten Maßnahmen beigetragen, wie fehlender Wille zur Aufarbeitung ihrer problematischen Rolle in den letzten Jahrzehnten. Zwar förderten die Razzien nur einzelne Fälle von Kollaboration zu Tage, doch wird diese Kirche in der ukrainischen Öffentlichkeit schon seit längerer Zeit als eine „soft power“ des Moskauer Patriarchats eingestuft. Der Krieg Russlands hat die gesellschaftliche Meinung verstärkt, dass Strukturen dieses Patriarchats in der Ukraine keinen Platz mehr haben sollten. Daher kommt es der Kirchenleitung der UOK sehr ungelegen, dass sie laut einer staatlich beauftragten Expertise weiterhin als Teil des Moskauer Patriarchats zu betrachten ist.

Im Dezember 2022 hat das ukrainische Verfassungsgericht eine Novelle zum Religionsgesetz von 1991 für verfassungskonform erklärt, wonach religiöse Organisationen, die ihr Zentrum in einem Aggressorstaat (also in Russland) haben, ihre Zugehörigkeit zu diesem Zentrum in ihrem Namen explizit ausweisen müssen. In Hinblick auf internationale Standards für Religionsfreiheit werden hierzu Bedenken geäußert, wie auch bei einer Reihe von Gesetzesentwürfen, die faktisch gegen die UOK gerichtet sind. Chancen auf Umsetzung wird einem Gesetzesentwurf der Regierung eingeräumt, der in einem mehrstufigen Verfahren ein gerichtliches Verbot der Tätigkeit von Strukturen des Moskauer Patriarchats vorsieht. Zwar sind in der Ukraine die Kirchen in ihrer Gesamtheit – im Unterschied zu ihren Gemeinden und Zentren – keine juristischen Personen, so dass sich ein vollständiges Verbot einer Kirche kaum durchsetzen ließe; Verbote könnten aber Leitungsstrukturen und Gemeinden treffen. Derartige Eingriffe sind insbesondere in einer Kriegssituation sehr heikel. Abgesehen von der Problematik politischer Einmischung in den kirchlichen Bereich könnte sich die Verstärkung eines religiösen Konflikts gerade jetzt für die Ukraine als kontraproduktiv erweisen und Moskau in die Hände spielen. Der Kreml und das Moskauer Patriarchat instrumentalisieren das Thema bereits jetzt vor internationalen Organisationen. Umgekehrt hat gerade die Leitung der UOK durch ihre Blockadetaktik wesentlich zur Konfrontation beigetragen und die Kräfte bestärkt, die argumentieren, dass eine Abtrennung der „Tentakel Russlands“ für die gesellschaftliche Konsolidierung mehr als geboten sei.

Auch im Zusammenhang mit dem Kyjiwer Höhlenkloster stellt sich die Frage, weshalb die Kirchenleitung nicht in der Lage ist, suspekte Personen zu ersetzen und sich den Vorwürfen unrechtmäßigen Verhaltens zu stellen. Wichtig ist, dass künftige religionsrechtliche Regelungen den Menschenrechtsstandards entsprechen. Dagegen erscheint es mir – ganz im Unterschied zur Situation in den von Russland besetzten Gebieten – übertrieben, wenn manche eine aktuelle Gefährdung der Religionsfreiheit in der Ukraine orten, gerade in Anbetracht der Bedrohung der nationalen Sicherheit in Kriegszeiten. Die Gefahr, dass politische Kräfte mit überzogenen generellen Maßnahmen zu einer Verfestigung von Konfliktkonstellationen beitragen, lässt sich jedoch nicht von der Hand weisen. Problematisch ist zudem, wenn Maßnahmen gegen Kirchenvertreter Gläubige betreffen, die zum allergrößten Teil loyale Staatsbürger sind.

Gefahr einer Konflikteskalation
Bislang erfolglos waren Versuche aus dem Klerus der UOK, ihre Hierarchie zu einer unmissverständlichen Loslösung vom Moskauer Patriarchat und zu einem Dialog mit der OKU zu bewegen. Deren Führung scheint ihrerseits nach einer staatsnahen Position zu streben und vertritt ähnlich wie ihre Konkurrentin ein exklusivistisches Modell. Erschwerend kommt hinzu, dass die Sakramente der OKU von der UOK offiziell nicht anerkannt werden und gesamtorthodoxe Mechanismen für eine Lösung derzeit fehlen. Obwohl sich eine Dialoggruppe aus Klerikern beider Kirchen gebildet und sich im Februar in Anwesenheit des Leiters der staatlichen Kultusabteilung Viktor Yelensky getroffen hat, ist der Konflikt auf Ebene der Kirchenleitungen festgefahren. Die Führung der UOK setzt auf ihre Opferrolle, und es besteht die Gefahr, dass sich der Konflikt ausweitet. Der Staat steht vor der Aufgabe, den Balanceakt zwischen den verschiedenen Interessen zu wahren und eine politische Instrumentalisierung des Konflikts zu vermeiden. Obwohl eine Vereinigung beider Kirchen in absehbarer Zeit unrealistisch ist, erscheint längerfristig ein Dialog zwischen ihnen angesichts einer zusammenrückenden Gesellschaft in der Ukraine, aber auch in Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Kirchen unausweichlich.

Auch nach dem Ablauf der Räumungsfrist am 29. März besteht die Problematik rund um das Höhlenkloster weiter fort. Während Metropolit Onufrij (Berezovskij), das Oberhaupt der UOK, das Höhlenkloster inzwischen verlassen hat, weigert sich dessen Vorsteher, Metropolit Pavlo (Lebid), dies zu tun. Die Mönchsgemeinschaft ist bislang ebenfalls im Kloster geblieben. Es gab auch Demonstrationen; die staatlichen Behörden reagieren vorsichtig, haben aber inzwischen gegen Metropolit Pavlo Hausarrest verhängt, während die UOK in einem Gerichtsverfahren die angeordnete Räumung abzuwenden hofft. Ein Priestermönch ist mittlerweile zur OKU übergetreten, die im Klosterareal angesiedelte geistliche Akademie ist mit dem Problem ihrer drohenden Verlegung konfrontiert. Von mehreren Seiten wird Sorge geäußert, dass angesichts der Zuspitzung der Konfrontation ein Dialog zwischen den beiden Kirchen wieder in die Ferne rückt. Es bleibt zu hoffen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht gefährdet wird.

Thomas Mark Németh, Dr. Dr., Professor für Theologie des christlichen Ostens an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Priester der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche.

Bild: Barbara Mair