Die orthodoxe Kirche in Estland und der Krieg gegen die Ukraine
Interview mit Andrey Shishkov
Was ist die Haltung der Estnischen Orthodoxen Kirche zu Russlands Krieg gegen die Ukraine und gegenüber dem Moskauer Patriarchat, zu dem sie gehört?
Die Estnische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (EOK MP) ist laut dem Statut der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) eine selbstverwaltete Kirche. Das bedeutet, dass sie formal über eine ziemliche große Autonomie gegenüber Moskau verfügt. Die EOK MP wird von einem eigenen Synod geleitet, dessen Entscheidungen keiner Bestätigung des Hl. Synods der ROK bedürfen, wie das im Fall von Beschlüssen von Exarchaten (Belarus, Westeuropa, Südostasien) oder Metropolitankreisen (Kasachstan, Zentralasien) funktioniert. Das derzeitige Oberhaupt der EOK MP, Metropolit Evgenij (Reschetnikov) von Tallinn, dient allerdings erst seit 2018 in Estland, vorher war er 23 Jahre lang Rektor der Moskauer Geistlichen Akademie und hatte nie eine Eparchie verwaltet. Er beherrscht die estnische Sprache nicht und kennt sich bis jetzt in der estnischen Politik schlecht aus. Mental ist Evgenij noch immer stark mit Russland verbunden.
Die Leitung der EOK MP reagierte auf den Beginn des Kriegs mit keiner eigenen Mitteilung. Aber Metropolit Evgenij unterstützte und unterschrieb eine Antikriegserklärung des Rats der Kirchen Estlands, die am 19. März 2022 publiziert wurde. Als ihm der estnische Staat androhte, seine Aufenthaltserlaubnis zu verlieren (Evgenij ist Bürger Russlands und lebt mit einer temporären Aufenthaltserlaubnis in Estland), erklärte der Metropolit im Oktober 2022 öffentlich, dass er nicht mit den Worten des russischen Patriarchen Kirill einverstanden sei. Dabei ging es um dessen Predigt vom 25. September 2022, in der Patriarch Kirill gesagt hatte, dass der Tod im Krieg alle Sünden eines Soldaten abwasche.
Offiziell hat die Leitung der EOK MP den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht direkt verurteilt. Die estnische Hierarchen verwenden häufig die Formel „Wir sind gegen jegliche Kriege“, so z. B. in der Erklärung des Hl. Synods der EOK MP vom 6. Oktober 2022.
Wie sind die Beziehungen zwischen den Kirchen in Estland?
In Estland gibt es zwei orthodoxe Kirchen: neben der EOK MP existiert seit 1996 die Estnische Apostolische Orthodoxe Kirche (EAOK), die ein Teil des Patriarchats von Konstantinopel ist. Diese Kirche wird von einem Griechen, Metropolit Stefan (Charalambidis), geleitet, der bis zu seinem Dienst in Estland laut eigenen Aussagen nicht einmal wusste, wo dieses Land liegt. Die Entstehung der EAOK war von einem großen Skandal und dem zeitweisen Abbruch der eucharistischen Gemeinschaft zwischen den Patriarchaten von Moskau und Konstantinopel begleitet. Aus Sicht Moskaus gehört Estland zum kanonischen Territorium der ROK, während Konstantinopel die EAOK als wiedererrichtete Kirche betrachtet, die schon 1923 von Konstantinopel die Autonomie erhalten habe. Dieser Konflikt dauert bis jetzt an und die Beziehungen zwischen den beiden orthodoxen Kirchen in Estland müssen feindselig genannt werden. Dabei beschuldigt jede Seite die andere, dass sie sich nicht annähern wolle.
Neben den beiden orthodoxen Kirchen, die zusammen die zahlenstärkste Konfession in Estland bilden (16 Prozent der Bevölkerung), sind die Lutheraner die zweitgrößte Konfession (10 Prozent). Die große Mehrheit der estnischen Lutheraner sind Mitglieder der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (EELK). Das jetzige Oberhaupt der EELK, Erzbischof Urmas Viilma, leitet den Rat der Kirchen Estlands. Metropolit Evgenij unterhält gute Beziehungen zu ihm, Viilma verteidigte ihn im Oktober 2022 sogar öffentlich.
Das Oberhaupt der EOK MP wurde zwei Mal ins Innenministerium zitiert, um sein Verhalten zu besprechen. Wie ist die Beziehung zwischen der EOK MP und dem Staat?
Die Beziehungen des estnischen Staats zur EOK MP sind nicht vom sog. Problem der russischsprachigen Einwohner:innen Estlands zu trennen. Der Großteil der EOK MP besteht aus ethnischen Russen, Ukrainern und Belarusen, die Russisch sprechen. Geografisch leben sie mehrheitlich im Osten Estlands. Das Problem besteht darin, dass die Russischsprachigen in Estland im Wesentlichen Nachfahren von Umsiedlern aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken sind, die nach der Besetzung Estlands durch die Sowjetunion 1940/44 hierher gezogen sind. Bis heute pflegen sie eine starke kulturelle Verbindung mit Russland, sind teilweise schlecht in die estnische Gesellschaft integriert und werden als „Agenten“ des östlichen Nachbarn wahrgenommen.
Nach der russischen Invasion in die Ukraine haben sich diese Verdächtigungen noch verstärkt. Metropolit Evgenij, der die größte religiöse Organisation im Land leitet, ist zudem noch Bürger der Russischen Föderation. Die ständigen Drohungen, Metropolit Evgenij seine Aufenthaltserlaubnis zu entziehen, nehmen sich mit Blick auf die Religionsfreiheit wie ein Versuch aus, direkten Druck auf das Oberhaupt einer Konfession auszuüben. Das erklärten im Oktober 2022 auch mehrere andere religiöse Anführer Estlands, darunter Erzbischof Urmas Viilma. Laut der estnischen Gesetzgebung ist es nicht verboten, dass ein Bürger eines anderen Landes eine Religionsorganisation leitet. Beide orthodoxen Metropoliten sind keine Esten und keine Bürger Estlands.
Allerdings kann auch nicht gesagt werden, dass Evgenij keinen Anlass zu Verdächtigungen geben würde. So kam es im Januar 2023 zu einem nächsten Skandal, als Metropolit Evgenij mitten im Wahlkampf ein Friedensgebet zusammen mit der rechtspopulistischen Bewegung Koos ankündigte. Koos ist für ihren prorussischen Ruf bekannt, ihre Vertreter tauchten nach dem Kriegsbeginn in Fernsehsendungen russischer Propagandisten wie Vladimir Solovjov auf. Zusätzlich zum Friedensgebet war ein politisches Meeting der Bewegung angesetzt, was die estnischen Behörden unangebracht fanden und deshalb Metropolit Evgenij wieder zu einem Gespräch einbestellten. Er reagierte ziemlich schnell und bezeichnete den Vorschlag von Koos als Provokation.
Laut Statistik sind die meisten Esten nicht religiös. Wie werden die EOK MP und die Spannungen zwischen ihr und dem Staat von der Gesellschaft wahrgenommen?
Die Esten sollten nicht als areligiös bezeichnet werden, obwohl soziologische Umfragen und Volkszählungen im europäischen Vergleich rekordtiefe Zahlen der Religiosität liefern: rund 70 Prozent der Bevölkerung betrachten sich als nichtreligiös oder legen sich nicht fest. Doch dabei geht es um institutionalisierte Religiosität, für die die Zugehörigkeit zu einer Konfession eine wichtige Rolle spielt. Forschungen von Religionswissenschaftlern der Universität Tartu zeigen, dass die individuelle Religiosität der Einwohner:innen Estlands ziemlich hoch ist, aber aus einem Satz von Glaubensvorstellungen und Praktiken besteht, die keine institutionelle Ausgestaltung haben (Volksglauben, östliche Esoterik, New Age etc.).
Für die Gesellschaft ist die Spannung zwischen dem estnischen Staat und der EOK MP auch Teil des Problems der russischsprachigen Einwohner Estlands. Es hat keinen rein religiösen Subtext. Der estnische Staat fürchtet die EOK MP als Kraft, die bis zu 15 Prozent der Bevölkerung des Landes vereinen kann, und diese Angst wird manchmal an die Gesellschaft weitergegeben. Zudem hat die EOK MP keine PR-Abteilung, die Beziehungen zu Journalist:innen aufbauen würde. Das führt dazu, dass die Kirche für die Gesellschaft wie eine ziemlich hermetische Struktur aussieht, von der von Zeit zu Zeit Gefahr ausgeht. Dazu kommt, dass Oppositionsparteien versuchen, mit der russischsprachigen Wählerschaft zu arbeiten. So hat das rechtsradikale Medium Meie Kirik (Unsere Kirche), das mit der zweitstärksten Partei EKRE, die in der Opposition ist, verbunden ist, im Oktober 2022 mehrere Artikel veröffentlicht, in denen Metropolit Evgenij „vor den Angriffen des Staats“ in Schutz genommen wird. Offensichtlich handelte es sich um ein Kalkül vor den Wahlen, um Stimmen von denen zu gewinnen, die mit der Politik der Regierung unzufrieden sind.
Andrey Shishkov, Junior Research Fellow an der Schule für Theologie und Religionswissenschaft der Universität Tartu.
Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.
Bild: Die Alexander-Nevski-Kathedrale der Estnischen Orthdoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) in Tallinn. (© Georg Mittenecker, Attribution-Share Alike 2.5 Generic)