Liquidierung einer Kirche? Einseitige Wahrnehmungen des neuen Gesetzes
Reinhard Flogaus
Am 20. August 2024 beschloss die Verchovna Rada, das ukrainische Parlament, ein Gesetz „über den Schutz der Verfassungsordnung im Tätigkeitsbereich religiöser Organisationen“. 265 von insgesamt 424 Abgeordneten stimmten für das neue Gesetz, 29 dagegen und vier enthielten sich. Hinter dem etwas sperrigen Namen verbirgt sich ein vor fast zwei Jahren durch den ukrainischen Ministerpräsidenten initiiertes Vorhaben, um die Tätigkeit der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) und mit ihr verbundener Organisationen in der Ukraine zu verbieten. Die ROK und vor allem ihr Oberhaupt, Patriarch Kirill, sind inzwischen zu einem Sprachrohr der Kremlpropaganda geworden und legitimieren den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Von manchen ihrer Hierarchen wird der Ukraine sogar das Recht auf Eigenstaatlichkeit abgesprochen und die Wiederherstellung eines „historischen“ Großrusslands propagiert. Insofern ist das mit diesem Gesetz verbundene Ziel einer Stärkung der nationalen Sicherheit der Ukraine und ihrer Bürger durchaus nachvollziehbar.
Dennoch ist seit dem Parlamentsbeschluss die mediale Aufregung groß. In der internationalen Presse ist im Hinblick auf das neue Gesetz fast durchgängig von einem „Verbot“, ja von der „Liquidierung“ der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) die Rede. Auch Papst Franziskus pocht auf die Unantastbarkeit aller Kirchen, und der Ökumenische Rat der Kirchen spricht gar von einer „ungerechtfertigten Kollektivbestrafung einer ganzen religiösen Gemeinschaft“ und von einem „Verstoß gegen die Prinzipien der Religions- und Glaubensfreiheit“. Stimmen diese Vorwürfe?
Die UOK, zu der in der Ukraine über 10'000 Gemeinden gehören, war bis zum Jahr 2022 eine autonome Kirche innerhalb des Moskauer Patriarchats. Angesichts des landesweiten Angriffs Russlands auf die Ukraine hatte das Oberhaupt der UOK, Metropolit Onufrij (Berezovskij), schon am ersten Kriegstag die militärische Aggression verurteilt und Präsident Vladimir Putin aufgefordert, den „Bruderkrieg“ sofort zu beenden. Auch stellte er sich hinter die ukrainische Armee und deren Verteidigung der ukrainischen Souveränität. Als dann in den folgenden Wochen die theologische und historische Legitimierung der russischen Invasion durch Patriarch Kirill und andere Hierarchen der ROK offensichtlich wurde, erklärte die UOK am 27. Mai 2022 bei einem Landeskonzil ihre „völlige Selbständigkeit und Unabhängigkeit“ von der ROK.
Doch unbeeindruckt von diesem Beschluss betrachtet das Moskauer Patriarchat bis zum heutigen Tag die UOK als eine ihr unterstehende autonome (Teil-)Kirche. In den Kirchlichen Jahrbüchern der ROK für die Jahre 2023 und 2024 werden weiterhin sämtliche Bischöfe der UOK als Bischöfe des Moskauer Patriarchats aufgeführt. Metropolit Onufrij ist gemäß der Ordnung der ROK nach dem Patriarchen sogar das ranghöchste ständige Mitglied des Moskauer Hl. Synods, des regelmäßig tagenden obersten Leitungsgremiums der ROK. Onufrij hat zwar seit der landesweiten russischen Invasion der Ukraine nicht mehr an Sitzungen in Moskau teilgenommen, doch hat er bisher eben auch nicht seinen Austritt aus dem Hl. Synod der ROK erklärt, geschweige denn Protest gegen seine Einreihung in die Hierarchie der ROK erhoben. Auch von anderen Bischöfen der UOK ist solches nicht bekannt. Ein Erzpriester der UOK, Volodymyr Saveljev, protestierte allerdings im Dezember 2022 öffentlich gegen seine ungefragte Aufnahme in den Verlagsrat der ROK für die kommenden Jahre.
Insofern überrascht es nicht, dass seit nunmehr zwei Jahren in der Ukraine immer wieder Zweifel an der selbsterklärten Unabhängigkeit der UOK laut werden. War dies vielleicht doch nur ein Schachzug, der zur Beruhigung der Öffentlichkeit oder auch der eigenen Gemeinden dienen sollte? Gibt es im Hintergrund vielleicht weiterhin enge Verbindungen einzelner Bischöfe der UOK zur Moskauer Kirchenleitung? Das sind Fragen, die sich nicht wenige Menschen in der Ukraine stellen. Was in Kriegszeiten ebenfalls nicht das Vertrauen der ukrainischen Behörden in die UOK gesteigert haben dürfte, ist die Tatsache, dass Metropolit Onufrij und eine Reihe weiterer Hierarchen auch die russische Staatsbürgerschaft besitzen oder besaßen, dies aber meist erst dann zugaben, wenn entsprechende Belege veröffentlicht wurden.
Die ukrainischen Behörden und der Inlandsgeheimdienst SBU haben angesichts dieser unklaren Gemengelage seit Dezember 2022 wiederholt Hausdurchsuchungen bei Bischöfen und Priestern dieser Kirche durchgeführt und teilweise auch Personen verhaftet. Die UOK musste große Teile des von ihr genutzten, jedoch dem Staat gehörenden Kyjiwer Höhlenklosters räumen. Gegen mehr als 100 Kleriker der UOK, darunter auch eine Reihe von Bischöfen, sind Untersuchungsverfahren wegen Kollaboration mit Russland oder Rechtfertigung bzw. Leugnung des russischen Angriffskriegs eingeleitet worden. In mindestens 26 Fällen ist es inzwischen zu einer gerichtlichen Verurteilung gekommen. Aber auch von diesen offensichtlich in den Reihen des Klerus existierenden schwarzen Schafen hat sich die Leitung der UOK nicht öffentlich distanziert.
Diese und ähnliche Zweifel an der tatsächlichen Haltung der UOK zur ROK haben nun offenbar zu jenem umstrittenen Gesetz geführt. Ist es tatsächlich ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und die auch von der ukrainischen Verfassung garantierte Religionsfreiheit? Dagegen spricht zunächst einmal der Wortlaut des Gesetzes selbst, der sich explizit zu den genannten Rechtsnormen bekennt und festhält, dass keine Bestimmung dieses Gesetzes im Sinne einer Einschränkung der Religions- und Glaubensfreiheit interpretiert werden dürfe. Das Gesetz untersagt lediglich die Tätigkeit ausländischer religiöser Organisationen in der Ukraine, sofern diese ihren Sitz in einem Staat haben, der die Ukraine mit Waffen angreift oder Teile ihres Territoriums besetzt, oder von solchen Organisationen, die direkt oder indirekt eine militärische Aggression gegen die Ukraine unterstützen. Konkret wird sodann die Tätigkeit der ROK – nicht der UOK! – in der Ukraine untersagt, da diese ein „verlängerter ideologischer Arm des Regimes des Aggressorstaates“ Russland sei.
Ebenfalls durch das Gesetz verboten wird die Propagierung der Ideologie der „Russischen Welt“. Diese werde von Russland zur Negierung der staatlichen Souveränität der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken sowie zur Propagierung eines imperialen Großrusslands benutzt. Eben zu diesen Zielen hat sich im März 2024 das von Patriarch Kirill geleitete und von der ROK gegründete Weltkonzil des Russischen Volkes bekannt. Im Namen der Einheit der „Russischen Welt“ wurde in einem Beschluss des Weltkonzils die „Militärische Spezialoperation“ in der Ukraine als ein „Heiliger Krieg“ bezeichnet und gefordert, dass das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine nach dem russischen Sieg zur „exklusiven Einflusszone Russlands“ werden müsse.
Bei diesem Gesetz des ukrainischen Parlaments geht es also mitnichten um ein generelles Verbot der UOK, wie allenthalben behauptet wird, sondern um eine organisatorische, jurisdiktionelle und eben auch politisch-ideologische Trennung der UOK, ihrer Bistümer und ihrer Gemeinden vom Moskauer Patriarchat. Ein ähnliches Gesetz, das die völlige Unabhängigkeit von der ROK vorschreibt, wurde beispielsweise am 8. September 2022 vom lettischen Parlament beschlossen, woraufhin die dortige orthodoxe Kirche sich auf einem Konzil im Oktober für unabhängig erklärte. Interessanterweise geschah dies in Lettland ganz ohne kirchlichen Protest und ohne den Vorwurf, der Staat verletze damit die Religionsfreiheit. Und am selben Tag, an dem in der Ukraine die Verchovna Rada das neue Gesetz verabschiedete, erklärte in Estland ein Konzil der dortigen orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats ebenfalls die Trennung von der ROK. Dies erfolgte in Umsetzung einer zuvor getroffenen Vereinbarung mit der estnischen Regierung, wobei perspektivisch sogar eine Vereinigung mit der dem Ökumenischen Patriarchat unterstehenden orthodoxen Kirche in Estland angestrebt wird.
Doch was in diesen beiden Ländern – die anders als die Ukraine bislang nicht direkt von Russland angegriffen wurden – mehr oder minder geräuschlos vonstatten gegangen ist, wird im Falle der UOK praktisch unisono als Angriff auf die Religionsfreiheit gewertet und als ein Versuch der Liquidierung einer ganzen Kirche. Dabei wird von staatlicher Seite von der UOK nur eine konsequente Umsetzung dessen verlangt, was die Kirche selbst im Mai 2022 beschlossen hat. Dass nur dies und nichts anderes die Bedingung für die staatliche Anerkennung der UOK ist, hat der ehemalige Rada-Abgeordnete und jetzige Leiter des Staatlichen Dienstes für Ethnopolitik und Gewissenfreiheit Viktor Yelenskyj, der den ukrainischen Präsidenten in Religionsfragen berät und nun für die Umsetzung des neuen Gesetzes zuständig ist, dem Oberhaupt der UOK inzwischen mitgeteilt. Um nicht unter die Bestimmungen des neuen Gesetzes zu fallen, so Yelenskyj, reiche es aus, wenn die UOK schriftlich den Rückzug ihrer Amtsträger aus dem Hl. Synod der ROK und aus allen anderen Gremien des Moskauer Patriarchats erkläre und diese völlige Trennung von der ROK auch den übrigen orthodoxen Kirchen offiziell mitteile. Staatlicherseits werde keine Vereinigung der UOK mit der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) gefordert. Auch der von manchen Kritikern bislang bemängelte Verzicht der UOK auf eine eigene Autokephalieerklärung wurde von Yelenskyj nicht zur Bedingung für eine staatliche Anerkennung der UOK gemacht, da nach dem orthodoxen Kirchenrecht die Autokephalie nur von der Mutterkirche verliehen werden kann.
Sollte die UOK nicht diese Forderungen erfüllen können? Ist ein solcher Austritt aus den Gremien der ROK nach dem Konzil vom Mai 2022 nicht ohnehin längst überfällig? Und sollte die UOK nicht selbst ein Interesse daran haben, dass in ihren Kirchen nicht Putins imperialistische Ideologie einer „Russischen Welt“ propagiert wird? Das sind Fragen, die sich Metropolit Onufrij und seine Kleriker stellen lassen müssen. Die übrigen ukrainischen Kirchen, die OKU, die Ukrainische Griechisch-Katholische und die Römisch-Katholische Kirche, aber auch verschiedene protestantische Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften hatten kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes bei einer Videokonferenz mit Präsident Volodymyr Zelenskyj jedenfalls keine Einwände gegen den Entwurf. Stattdessen verurteilten sie die propagandistische Tätigkeit der ROK, die sich zur „Komplizin der blutigen Verbrechen der russischen Invasoren gegen die Menschlichkeit“ gemacht habe. „Die Hauptbedrohung der Religionsfreiheit in der Ukraine“, so die Mitglieder des Allukrainischen Rates der Kirchen und religiösen Organisationen, sei „die russische Aggression, infolge derer Dutzende Kleriker von den Besatzern getötet und hunderte Kirchen und Gotteshäuser zerstört wurden.“
Doch außerhalb der Ukraine kritisieren Katholiken und Protestanten derzeit das neue Gesetz in aller Schärfe. Diesbezüglich gibt es inzwischen eine bemerkenswerte Allianz zwischen Rom, Genf und Moskau. Denn selbstverständlich hat auch die ROK das Gesetz als neuen Höhepunkt der staatlichen Verfolgung der kanonischen Orthodoxie in der Ukraine bezeichnet. So erklärte der Hl. Synod, durch das Gesetz würden „Millionen von orthodoxen Gläubigen in der Ukraine“ in die Illegalität getrieben und ihres Eigentums und ihrer Gebetsstätten beraubt. Das Ausmaß der staatlichen Verfolgung der UOK sei vergleichbar mit der „Dechristianisierung Frankreichs während der Französischen Revolution“, mit der „atheistischen Repression in der Sowjetunion“ und der „Zerstörung der albanischen Kirche“ unter Enver Hoxha. Nutznießer dieses Gesetzes sei die vom Ökumenischen Patriarchat 2019 in die Autokephalie entlassene OKU, deren Hierarchen und Geistliche dieses Gesetz befürwortet hätten. Doch hinter ihnen stehe der Ökumenische Patriarch und Erzbischof von Konstantinopel Bartholomaios. Er „persönlich sei verantwortlich für die Organisation der Verfolgung der Gläubigen der UOK“, so die ROK. So tönt schon seit längerem die Kriegspropaganda des Moskauer Patriarchats, die in Wahrheit selbst der Anlass für dieses Gesetz ist.
Wie aber wird es in der Ukraine weitergehen? Das von Präsident Zelenskyj am 24. August unterzeichnete Gesetz wird 30 Tage nach seiner Veröffentlichung in Kraft treten. Dann liegt es an der von Yelenskyj geleiteten Behörde, Ermittlungen auf Grundlage des neuen Gesetzes aufzunehmen und die einzelnen Bistümer, Gemeinden und Klöster gegebenenfalls aufzufordern, ihre Verbindungen zur ROK zu kappen. Kämen diese der Forderung nicht nach, müsste der Staatliche Dienst für Ethnopolitik und Gewissenfreiheit vor Gericht ein Verbot erwirken. Da aber jede Gemeinde der UOK als eigene juristische Person registriert ist und es derzeit über 10'000 Gemeinden gibt, könnte dies ein sehr langwieriger Prozess werden, zumal das Gesetz festlegt, dass entsprechende Gerichtsverfahren frühestens in neun Monaten beginnen können.
Die entscheidende Frage in diesem Konflikt dürfte sein, ob die UOK bereit ist, sich tatsächlich vollständig vom Moskauer Patriarchat zu lösen. Der Leiter der Informationsabteilung der UOK, Metropolit Kliment (Vetscherja), hat in seinen ersten Äußerungen zu dem neuen Gesetz nicht gerade diesen Eindruck erweckt. Stattdessen vertrat er die Auffassung, das Gesetz verstoße gegen die ukrainische Verfassung und europäische Normen. Den Urhebern dieses Gesetzes gehe es weniger um die Kirche selbst, sondern um deren Besitz. Dies erinnere ihn an die Zeiten der Sowjetunion, wo die atheistischen Machthaber auch per Dekret die Konfiszierung kirchlichen Eigentums und die Entrechtung der Kirche verfügt hätten. Die jetzigen Methoden, mit denen diese Pläne umgesetzt würden, seien dieselben. Wenigstens hinsichtlich dieser Argumentation lässt sich nicht im geringsten erkennen, dass sich die Leitung der UOK von der Leitung der ROK inhaltlich distanziert hätte. Bei allem Verständnis für die kanonisch schwierige Situation der UOK muss man ihrer Leitung doch zumindest eine gewisse Halbherzigkeit hinsichtlich der Umsetzung der von ihr selbst erklärten Unabhängigkeit von der ROK attestieren.
Und nun? Wird die UOK, die seit 2022 erheblich an Mitgliedern verloren hat, an dieser Linie festhalten? Wahrscheinlich wird die UOK sowohl vor dem Verfassungsgericht der Ukraine als auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage gegen das Gesetz erheben. Auch diese Verfahren werden sich voraussichtlich lange hinziehen. Allerdings rumort es schon seit geraumer Zeit auch innerhalb der UOK. So verwies Viktor Yelenskyj darauf, dass in den vergangenen Tagen mehr als 400 Priester erneut an Metropolit Onufrij appelliert hätten, ein weiteres Konzil einzuberufen, um tatsächlich alle noch existierenden Verbindungen der UOK zur ROK offiziell zu beenden. Genau dies ist ja auch die Absicht des neuen Gesetzes. Doch der Metropolit habe sich geweigert, auch nur eine Abordnung dieser Gruppe zu empfangen. Bewegt sich die UOK weiterhin nicht, werden ihre Gläubigen und teilweise auch ihre Pfarrer mit den Füßen abstimmen. Die seit 2019 mit der UOK rivalisierende OKU hat jedenfalls schon angekündigt, sie sei gerne bereit, Kleriker und Gläubige der UOK bei sich aufzunehmen.
Reinhard Flogaus, Dr., Dozent für Kirchengeschichte und Fachvertreter für Ostkirchenkunde an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.