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Alar Kilp zur religiösen Situation in Estland

25. Juli 2018
Die orthodoxe Kirche in Estland hat vor kurzem ein neues Oberhaupt erhalten. Was bedeutet das für die Kirche? Zeichnen sich Veränderungen ab?
Personelle Veränderungen an der Spitze der der Estnischen Orthodoxen Kirche, die dem Moskauer Patriarchat untersteht, führen natürlich auch zu Veränderungen bei der internen Führung und in den Beziehungen zwischen der Estnischen Orthodoxen Kirche und den anderen christlichen Kirchen, die im Estnischen Rat der Kirchen vertreten sind (unter den zehn Mitgliedern befindet sich auch die Estnische Apostolische Orthodoxe Kirche, die mit dem Patriarchen von Konstantinopel verbunden ist). Bis zu einem gewissen Grad sind solche Veränderungen unvermeidbar, weil das neue Oberhaupt – Metropolit Jevgenij (Valerij) von Tallinn und ganz Estland – seine Arbeit in Estland eben erst aufgenommen hat und funktionierende persönliche Beziehungen schaffen muss. Andererseits ist es sehr unwahrscheinlich, dass es größere Veränderungen in den Beziehungen zwischen den christlichen Kirchen in Estland oder dem Verhältnis der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) zum estnischen Staat geben wird. Der Bereich der Religion funktioniert in Estland in seiner etablierten Praxis relativ unabhängig von den internationalen Beziehungen und der Politik der interethnischen Beziehungen.

Lange Zeit dominierte die lutherische Kirche in Estland, inzwischen zählt aber die orthodoxe Kirche mehr Gläubige. Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen den beiden Kirchen heute?
Tatsächlich identifizieren sich seit 2004 mehr Befragte als Orthodoxe, denn als Lutheraner. Dieser Trend hält weiterhin an, und aktuell ist die orthodoxe Kirche eindeutig die größte christliche Konfession in Estland. Die Beziehung zwischen der lutherischen und der orthodoxen Kirche ist freundschaftlich. In den 1990er Jahren kam es zu einer Spaltung zwischen den russischen Orthodoxen und denjenigen, die sich dem Patriarchat von Konstantinopel anschlossen. Doch 2002 kam es zu einer Lösung der vorangegangenen Konflikte um die Registrierung und um das Eigentum der orthodoxen Kirchen, die alle Parteien, auch den estnischen Staat, zufriedenstellte. Seither hat es keine größeren Konflikte zwischen der ROK und dem estnischen Staat oder zwischen der lutherischen und den orthodoxen Kirchen gegeben.

Die ethnisch begründeten Ausschreitungen im April 2007, ausgelöst von der Verschiebung der Statue des Bronzenen Soldaten im Zentrum von Tallin, die an im Zweiten Weltkrieg umgekommene Soldaten erinnerte, wurden nicht von Konfrontationen zwischen den christlichen Kirchen begleitet. Im Gegenteil, die Kirchen, darunter die lutherische und die orthodoxe Kirche, veröffentlichten einen gemeinsamen Aufruf, in dem sie alle Parteien dazu aufforderten, einen Dialog zu führen und auf Gewalt zu verzichten.

Weniger lang her ist die Zusammenarbeit der lutherischen und orthodoxen Kirche in Form gemeinsamer Statements gegen das Kohabitationsgesetz (das im Oktober 2014 vom Parlament angenommen wurde und im Januar 2016 in Kraft trat), das die staatliche Registrierung von gleichgeschlechtlichen Paaren erlaubt. Während der hitzigen öffentlichen Debatten veröffentlichten die Kirchen einzeln und im Namen des Estnischen Rats der Kirchen Statements, die einen ähnlichen Inhalt hatten und eine gemeinsame christliche oder ökumenische Position in der Öffentlichkeit bekräftigten.

Obwohl das Luthertum kulturell mit dem estnischen Nationalismus verbunden ist und die russische Orthodoxie ein wichtiges Identitätsmerkmal der Mehrheit der russischsprachigen Menschen in Estland darstellt, ist diese kulturelle Verbindung zwischen Religion und Identität nicht in die Politik übergeschwappt und hat nicht zu einer religiös-politischen Polarisation geführt. Andererseits gab es Politiker und Parteien, aber keine religiösen Führungsfiguren, die religiöse Symbole zeitweise und als Instrument im Wahlkampf benutzt haben.[1]

Estland gilt als eines der am wenigsten religiösen Länder in Europa. Wie macht sich das bemerkbar?
Religiosität wird mit verschiedenen Dimensionen und Indikatoren gemessen. Die estnische Gesellschaft ist eindeutig nicht die am wenigsten religiöse in Europa in Bezug auf die Dimension des religiösen Glaubens (der Anteil überzeugter Atheisten ist im Vergleich zu Frankreich tief) oder des Anti-Klerikalismus. Zudem lässt die „Es gibt keine Staatskirche“-Klausel der estnischen Verfassung Raum für eine umfassende Zusammenarbeit zwischen dem Staat und dem Estnischen Rat der Kirchen. Tatsächlich ist Estland nur in Bezug auf einen Indikator außergewöhnlich: die Beziehung der Menschen zu organisierter Religion. Die estnische ist die „unkirchlichste“ Gesellschaft in Europa. Für den Alltag in Estland könnte dies ein Zeichen einer ausgeprägt individualistischen Kultur sein, denn auch die Mitgliedschaft in Gewerkschaften und politischen Parteien ist wenig verbreitet. Sogar in Zeiten des nationalen Erwachens haben sich die Esten nie in großen hierarchischen Organisationen zusammengeschlossen. Doch jede Beurteilung der Religiosität in Estland sollte anerkennen, dass die Muster der Mitgliedschaft in organisierter Religion sich zwischen russisch- und estnischsprachigen Menschen in Estland unterscheiden.

Alar Kilp, Dr., Programmdirektor für Regierung und Politik am Johan Skytte Institut für Politologie an der Universität Tartu.

[1] Kilp, Alar: Lutheran and Russian Orthodox Church Buildings as Symbols of Cultural Identity in the Estonian Parliamentary Elections of 2011. In: Religion, State and Society 41, 3 (2013), S. 312-329.

Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.

Bild: Georg Mittenecker (Wikimedia Commons)