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Sophie Zviadadze über die Abschaffung von rechtlichen Privilegien der Georgischen Orthodoxen Kirche

26. Juli 2018
Wie ist der Status der Religionsgemeinschaften in Georgien insgesamt rechtlich geregelt?
In Georgien gibt es kein eigentliches Religionsgesetz. Die Verfassung schreibt eine säkulare Regierungsform fest. In Art. 9 hält die georgische Verfassung fest: „Der Staat erklärt die vollständige Glaubens- und Religionsfreiheit und anerkennt auch die besondere Rolle der Apostolischen Autokephalen Orthodoxen Kirche Georgiens in der Geschichte Georgiens und ihre Unabhängigkeit vom Staat.“ Das Verhältnis zwischen dem Staat und der Georgischen Orthodoxen Kirche (GOK) wird von dem Verfassungsabkommen von 2002 geregelt. Laut diesem Abkommen ist die GOK eine juristische Person des öffentlichen Rechts und genießt eine Reihe von Vorteilen (der Patriarch genießt Immunität, die Kirche verfügt über Steuerprivilegien, alle Kirchengebäude und deren Land sowie Kirchenruinen sind Eigentum der Kirche, die Regierung erstattet alle während der Sowjetzeit erlittenen Schäden der Kirche zurück). Noch heute gilt dieses Abkommen als kontrovers. Experten aus unterschiedlichen Bereichen kritisieren es und halten mehrere seiner Artikel für diskriminierend.

Am 5. Juli 2011 verabschiedete das georgische Parlament eine Anpassung zu Art. 1509 des georgischen Zivilgesetzbuchs und ermöglichte es dadurch religiösen Organisationen, die historische Verbindungen mit Georgien haben oder in einem Mitgliedstaat des Europarats registriert sind, sich als juristische Personen des öffentlichen Rechts zu registrieren. Diese Änderung war aber ziemlich oberflächlich, da sie nur die Statusbezeichnung änderte, die religiösen Organisationen aber nicht mit allen Vorteilen ausstattete, die mit dem Status von Rechtspersönlichkeiten im öffentlichen Recht einhergehen. Trotzdem war die Anpassung ein Fortschritt.

Das georgische Verfassungsgericht hat im Juli in einem Grundsatzurteil einige rechtliche Privilegien der Georgischen Orthodoxen Kirche für diskriminierend und nicht verfassungskonform erklärt. Worum geht es dabei?
Die Entscheidung des georgischen Verfassungsgerichts vom 3. Juli hat eine rechtliche und eine politische Bedeutung. Das Gericht gab zwei Verfassungsklagen statt, die von mehreren religiösen Organisationen eingereicht worden waren: von der Apostolische Administratur Kaukasien der römisch-katholischen Kirche, der Evangelisch-Lutherischen Kirche Georgiens, der Evangelisch-Baptistischen Kirche Georgiens, der Union der Georgischen Muslime, der Transkaukasischen Union der Siebenten-Tags-Adventisten, der Wort-des-Lebens-Kirche Georgiens, der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit, und der Kirche Christi. Aus Sicht der Kläger verstoßen einzelne Bestimmungen des Steuergesetzes und des Gesetzes über Staatseigentum gegen Art. 14 der Verfassung und führen zu einer diskriminierenden Situation für religiöse Organisationen. Zentrale Streitpunkte waren die Befreiung der GOK von der Mehrwertsteuer beim Bau, bei der Renovation und Ausmalung von Kirchen und Kathedralen sowie der gebührenfreie Transfer von staatlichem Eigentum an die GOK. Der Angeklagte war in beiden Fällen das georgische Parlament. Seine Verteidigung basierte auf der Anerkennung der „herausragenden Rolle“ der GOK in der Geschichte, wie es in der Verfassung steht (Art. 9).

Das Verfassungsgericht erklärte nun in seiner Entscheidung, „die historische Rolle [der Orthodoxen Kirche] sollte nicht als Quelle für privilegierte Legitimität betrachtet werden. Abgrenzung und die Schaffung eines rechtlich bevorzugten Zustands ist nicht und sollte nicht das Ziel der Verfassung sein [...]. Die Gewährung bestimmter Rechte an die GOK impliziert nicht die Schaffung von Hindernissen für andere religiöse Organisationen, dieselben Rechte zu genießen.“

Seit langem gibt es Debatten um die kontroverse Rolle der GOK in der Gesellschaft: die „Nähe“ zwischen Kirche und Staat, die Beteiligung der Kirche an politischen Prozessen (Wahlen), ihre Ambivalenz gegenüber Menschenrechten sowie die Ausnutzung öffentlicher Autorität, um ihren finanziellen Status zu stärken. Als Art. 1509 des Zivilgesetzes 2011 angepasst wurde, um es religiösen Organisationen zu ermöglichen, sich als Rechtssubjekt des öffentlichen Rechts zu registrieren, war die GOK gegen diese Änderung. Das georgische Parlament stand unter beträchtlichem Druck seitens der Kirche. Kirchenvertreter befürchteten, das Gesetz würde die dominante Rolle der GOK bedrohen und schmälern. Noch heute beeinflussen religiöse Anführer öffentliche und politische Debatten. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des Gerichts in der jüngsten Geschichte Georgiens ein Novum. Das Verfassungsgericht hob hervor, dass die diskriminierenden Bestimmungen durch die vollständige Abschaffung der Privilegien oder durch deren gleiche Anwendung auf alle Religionsgemeinschaften aus der Welt geschafft werden können. Laut dem Gericht liegt die verfassungsgemäße Entscheidung in dieser Sache bis zum 31. Dezember 2018 beim georgischen Parlament. Nach diesem Datum werden die verfassungswidrigen Artikel ungültig sein.

Gibt es schon eine Reaktion der GOK zum Entscheid des Verfassungsgerichts?
Die GOK hat noch kein offizielles Statement veröffentlicht. Bisher gibt es nur eine Ankündigung von Michael Botkoveli, dem Pressesprecher des georgischen Katholikos-Patriarchen Ilia II.. Im Patriarchat gebe es harte Debatten über die Gerichtsentscheidung, es sei verärgert und werde in den nächsten Tagen ein offizielles Statement veröffentlichen.

Welche Auswirkungen hat das Urteil für zukünftige Entwicklungen?
Das Urteil ist ein sehr wichtiges Ereignis. Es hat rechtliche, politische und kulturelle Bedeutung. Zunächst ist die Entscheidung ein Schritt nach vorn und verkörpert eine gewisse Hoffnung auf den Schutz der Gleichberechtigung von Glaubensgemeinschaften. Es ist nicht einfach, eine politische oder juristische Entscheidung zuungunsten der GOK zu treffen. Dieses Ereignis verweist auf einige Veränderungen in der georgischen Gesellschaft, insbesondere auf eine sich wandelnde Haltung bezüglich der Akzeptanz von religiösem Pluralismus zumindest auf rechtlicher Ebene. Noch bis vor fünf Jahren wäre ein solcher Gerichtsentscheid undenkbar gewesen. Deshalb hat das Ereignis in den sozialen Netzwerken so viel Aufmerksamkeit erhalten. Die Leute bezeichnen es als „historisch“ und „sensationell“ und zitieren die Begründung des Gerichts, dass „die Anerkennung der herausragenden Rolle der Georgischen Orthodoxen Kirche mit ihrer historischen Bedeutung verbunden ist und nicht dazu dient, in der Gegenwart rechtliche Privilegien für das orthodoxe Christentum einzurichten“. Die Entscheidung vom 3. Juli ist ein wichtiger Präzedenzfall dafür, dass sogar unter dem großen Druck und der öffentlichen Autorität der GOK sich die rechtlichen Rahmenbedingungen und – was am wichtigsten ist – die Haltung der Menschen zu religiösem Pluralismus, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung zum Besseren ändern.

Sophie Zviadadze, Dr., Associate Professor an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften und Leiterin des Masterstudiengangs Religionswissenschaft an der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilisi.

Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.