Kirche in Kiew: Lokales Handeln und globaler Glauben
Die geheime Abstimmung auf dem Konzil war ein Lackmustest für das gesamte Konzil. Die alte Garde im Episkopat hatte noch versucht, eine offene Abstimmung per Handzeichen durchzusetzen, unter der Kontrolle der Führung und unter der Angst vor Strafen für diejenigen, die „falsch“ abstimmten. Diese Versuchung wurde überwunden, die tatsächliche Freiheit und Überwindung von Angst ist ein wichtiges Vorbild für das weitere Leben der Kirche.
In der zweiten Wahlrunde stimmten 36 Bischöfe in geheimer Wahl für Bischof Epifanij (Dumenko; früher Teil des Kiewer Patriarchats), 28 Stimmen wurden für Bischof Simeon (Schostazkij; früher Teil des Moskauer Patriarchats) abgegeben. Mit der Mehrheit der Stimmen wurde Bischof Epifanij zum Vorsteher der Orthodoxen Kirche der Ukraine gewählt. Bischof Simeon wird aufgrund seiner Autorität und der bedeutenden Stimmenanzahl eine wichtige Rolle in der neuen Kirche spielen.
Metropolit Epifanij wird als neuer Vorsteher der Kirche am 6. Januar nach Konstantinopel/Istanbul reisen, um von Patriarch Bartholomaios den Tomos (die offizielle Urkunde) über die Gewährung der Autokephalie für die Orthodoxe Kirche der Ukraine überreicht zu bekommen. Am 16. Dezember hatte Patriarch Bartholomaios bereits den Namen des Vorstehers der ukrainischen Kirche als 15. in die Liste der Vorsteher der lokalen orthodoxen Kirchen aufgenommen und für ihn gebetet.
Die Familie der lokalen orthodoxen Kirchen besteht nun aus 15 Schwestern. Es ist bekannt, wie unharmonisch deren Beziehungen sind. Aber es ist auch wichtig zu betonen, dass das Wesen dieser Beziehungen und ihrer Unterschiede in keiner Weise mit der Unabhängigkeit von Staaten vergleichbar ist. Aus theologischer Sicht bilden alle orthodoxen Kirchen den einen Leib Christi. Diese Einheit ist tiefer als alle ethnischen, politischen oder linguistischen Unterschiede. Die Differenz zwischen der dogmatischen Wahrheit und den historischen Konflikten ist und bleibt eine Herausforderung für das Gewissen jedes gläubigen Menschen und ein Aufruf zur Überwindung von allen Trennungen.
Aufgrund einer Reihe historischer Faktoren haben die nun erfolgten Ereignisse einen tiefen und unumkehrbaren Charakter. Darüber wurden bereits und werden noch ganze Bücher geschrieben. Ein Schlüsseltext für die gesamte Kiewer Tradition ist die Kathedrale der Heiligen Sophia von Kiew und ihre tausendjährige Geschichte. Vor unseren Augen wurde dieser Geschichte mit dem Konzil und der Entstehung der neuen lokalen Kirche eine weitere Seite hinzugefügt. Millionen Menschen haben Jahrzehnte darauf gewartet, einige mit Angst, andere mit Hoffnung. Und dennoch wurden viele internationale Experten von den Ereignissen überrascht. Auch die kirchlichen Politiker hatten bis zum letzten Moment ihre Zweifel. Nun aber ist der Rubikon überschritten, und das Konzil mit seinen Entscheidungen ist zu einem Faktor geworden, der das Leben von Millionen Menschen beeinflussen wird.
Natürlich haben die einzelnen Gemeinden nun viel Arbeit vor sich. An jedem Ort muss bedacht werden, was primär und was sekundär ist, um das Evangelium und ein ihm gemäßes Leben zu verwirklichen. Die babylonische Sprachverwirrung in unseren Kirchen verdeutlicht die ganze Schärfe der Frage nach Einheit und der Krise unserer gewohnten Gemeinschaft. Dabei betrifft das Problem nicht nur die Entwertung der theologischen Rhetorik. Hinter vielen Erklärungen über unsere Einheit hat sich eine erschreckende Leere gezeigt, und diese Leere können wir nicht mit irgendwelchen Reden füllen. Die Kluft zwischen den richtigen Worten und den falschen Taten ist zu offensichtlich geworden. Der geopolitische Größenwahn hat jegliche Verbindung zu den menschlichen Beziehungen zwischen Ich und Du verloren.
Dabei will ich gar nicht über die neoimperiale Propaganda sprechen, die sich parasitär der kirchlichen Lexik bedient. Und ich will auch nicht die verlogene Erhabenheit der schematischen Gegenüberstellung von Wir – die Anderen analysieren. Es ist schon schwer, die Worte des Apostels Paulus in unserer heutigen Gesellschaft verständlich zu machen, dass es „nicht Grieche, nicht Juden mehr gibt“, umso schwerer, diese Liste fortzusetzen: „nicht Grieche, nicht Russe, nicht Westler, nicht Postsowjetischer, nicht Einheimischer, nicht Migrant…“
Die Aushöhlung der gewohnten Sprache lässt uns die einfachen und brennenden Dinge klarer sehen. Wir sind wieder an der Stelle, in dem Zustand, über den gesagt war: „Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.“ (Mt 25,42-43)
Die Frage nach den grundlegenden, einfachen Gesten der Menschlichkeit gibt uns die Chance, tatsächlich neue Elemente unserer zukünftigen Sprache zu finden. Wir dürfen nicht vergessen, dass die aktuellen Ereignisse in einem Land stattfinden, dass seit fünf Jahren unter der Aggression einer externen Kriegsmacht leidet, und in dem mehr als zwei Millionen Binnenflüchtlinge leben. Die gelebte Gastfreundschaft und die Fürsorge für andere ist ein Imperativ für alle Menschen in diesem Land.
Schließlich möchte ich zwei Menschen zitieren. Das ist zum einen Bohdan Ohultschanskyj, Priester der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat): „Die Veränderungen in der ukrainischen Orthodoxie wurden von den anderen Kirchen unterstützt, insbesondere von der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. Der neue Status kann der Kirche helfen, sich als Bestandteil der Weltorthodoxie, des weltweiten Christentums zu entfalten. Den Hierarchen, Priestern und Theologen eröffnet sich die Möglichkeit, das kirchliche Leben nicht lokal in der Isolation aufzubauen, sondern interaktiv, in Berührung mit der reichen Erfahrung des europäischen und weltweiten Christentums. Und das gibt der ukrainischen Orthodoxie die Chance, christliche Werte in der komplexen, vielfältigen ukrainischen Gesellschaft zu verwirklichen – auf der Grundlage von Dialog, Kooperation bei der Lösung komplexer sozialer Fragen und durch aktive christliche Barmherzigkeit.“
Der Leiter der römisch-katholischen Bischofskonferenz in der Ukraine, Bronisław Biernacki, wandte sich mit einem Brief an Metropolit Epifanij, in dem er ihm zur Vollendung des Konzils und zur Wahl als Kirchenoberhaupt gratulierte. Dieser symbolische Brief gilt nicht nur dem neuen Kirchenvorsteher, sondern uns allen: „Mögen das Wirken und die Macht des Heiligen Geistes diese verantwortungsvolle Aufgabe, die Ihnen das Konzil anvertraut hat, segnen, möge Euer Dienst immer durch die Fürsorge der Gottesmutter und den Erzengel Michael, den Schutzpatron unseres Heimatlands, begleitet werden. Möge Eure Arbeit zu Gottes Ehren neue Früchte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe sowie eines gottgefälligen Lebens der ukrainischen Christen bringen.“
Die Gemeinschaft und die Verbindung des Eigenen, Lokalen und des Globalen sind ein zentrales Leitmotiv für die Christen unseres Landes und alle Menschen guten Willens.
Übersetzung aus dem Russischen: Regina Elsner.
Konstantin Sigov, Direktor des Europäischen Forschungszentrums und Verlags Duch i Litera (Geist und Buchstabe) an der Nationalen Universität der Mohyla-Akademie in Kiew.
Bild: Der neu gewählte Metropolit Epifanij zwischen Präsident Petro Poroschenko und Metropolit Emmanuel. (© Presidential Administration of Ukraine, Mikhail Palinchak)