Ukraine: Parlament verabschiedet umstrittenes Religionsgesetz
Am 20. August hat die Verchovna Rada, das ukrainische Parlament, das umstrittene Gesetzesprojekt Nr. 8371 in zweiter Lesung angenommen. 265 Abgeordnete stimmten dafür, während 29 dagegen waren und vier sich enthielten. Das Gesetz verbietet auf dem Gebiet der Ukraine die Tätigkeit „ausländischer religiöser Organisationen, die sich in einem Staat befinden, der anerkanntermaßen eine bewaffnete Aggression gegen die Ukraine begangen hat oder begeht und/oder vorübergehend einen Teil des Territoriums der Ukraine besetzt hat, und die direkt oder indirekt (darunter durch öffentliche Auftritte der Leiter oder anderer Leitungsorgane) die bewaffnete Aggression gegen die Ukraine unterstützen“. Das Gesetz war am 19. Oktober 2023 in erster Lesung angenommen worden. Im Juli 2024 hatte eine Gruppe Abgeordneter an einer Parlamentssitzung die Tribüne blockiert, um die Diskussion des Gesetzesprojekts zu erzwingen.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes werden lange diskutierte und umstrittene Einschränkungen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) möglich, die bis im Mai 2022 Teil der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) war und der weiterhin Verbindungen zum Moskauer Patriarchat nachgesagt werden. Allerdings kann die UOK nicht direkt verboten werden, da sie nicht als Gesamtorganisation registriert ist, sondern alle ihre Gemeinden, Organisationen und Institutionen einzeln als religiöse Körperschaften registriert sind.
Den betroffenen Religionsgemeinschaften bleiben laut Ruslan Stefantschuk, dem Vorsitzenden der Rada, neun Monate, um ihre Verbindungen nach Russland abzubrechen. Fachleute sollten beurteilen, ob eine entsprechende Zugehörigkeit bestehe, danach könnten die Aktivitäten einer Religionsgemeinschaft verboten werden. Gegen diese Entscheidung können die betroffenen Organisationen vor Gericht klagen. Der Leiter des Rada-Komitees für Fragen der humanitären und Informationspolitik, Nikita Poturaev, hofft, dass die UOK nun „reale und endgültige Prozesse“ der Ablösung vom Moskauer Patriarchat beginnt. Besser noch fände er es, sie würde sich nicht nur von der ROK trennen, sondern zugleich mit der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) vereinigen, aber das brauche Zeit. Auch er rechnet mit mehreren Monaten für die Erarbeitung eines Vorgehens zur Umsetzung des Gesetzes und der Zusammenstellungen eines Expertengremiums sowie der folgenden Umsetzung des Gesetzes.
Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelenskyj erklärte, das Gesetz verhelfe der Ukraine zu „spiritueller Unabhängigkeit“. Es garantiere, dass Moskau die ukrainische Kirche nicht manipulieren könne, und trage zur spirituellen Einigkeit im Land bei. Am 23. August, dem Tag der Unabhängigkeit der Ukraine, unterzeichnete er das Gesetz. Metropolit Kliment (Vetscherja), der Leiter der Informationsabteilung der UOK, erklärte in einem Kommentar gegenüber der BBC, dass das Gesetz der ukrainischen Verfassung und internationalen Verpflichtungen der Ukraine widerspreche. Zudem verstoße es gegen das Gesetz zur Dekommunisierung. Die Vorgänge erinnerten ihn an die „atheistische Ideologie der sowjetischen Zeiten, aber auch an die Methoden, mit denen diese Ideologie umgesetzt wurde“. Als die sowjetischen Behörden die Kirche nicht hätten verbieten können, erschossen sie Millionen Gläubige. Dies sei im 21. Jahrhundert nicht mehr möglich, aber die „Gesellschaft muss dem Auftauchen jeglicher Erscheinungen der Einteilung der ukrainischen Bürger in richtige und falsche gegenüber sehr aufmerksam sein“.
Großerzbischof Svjatoslav (Schevtschuk), das Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK), sagte, das Gesetz sei nicht ein Verbot der Kirche, sondern ein „Mittel zur Verteidigung vor der Gefahr, dass Religion als Waffe benutzt wird“. Zudem schütze es vor der Ideologie der „Russischen Welt“. Zwar solle das Gesetz die Religionsfreiheit vor Manipulation schützen, aber es sei wichtig, die praktische Umsetzung zu überwachen, sagte er weiter. Der Allukrainische Rat der Kirchen und religiösen Organisationen hatte das Gesetz im Vorfeld ebenfalls unterstützt. Am 17. August erklärte er nach einem Treffen mit Präsident Zelenskyj, dass er die Handlungen der ROK kategorisch verurteile, da sie Komplizin in den „blutigen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, Massenvernichtungswaffen heiligt und offen die Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit, Kultur, Identität und der Ukrainer insgesamt“ befürworte. Er beteuerte, dass die Religionsfreiheit in der Ukraine trotz des Kriegs respektiert werde. Die Hauptbedrohung für die Religionsfreiheit in der Ukraine sei der russische Angriff, wie in den besetzten Gebieten sichtbar sei. Das Moskauer Patriarchat rechtfertige „Pogrome und Einschränkungen der Religionsfreiheit“.
Der Hl. Synod der ROK kritisierte am 22. August in einem Statement die Verabschiedung des Gesetzes heftig. Er bemängelte, dass zum Verbot einer Religionsgemeinschaft die „Schlussfolgerungen einer ‚religionswissenschaftlichen Begutachtung‘ reichen, die unter den Bedingungen einer ‚Hexenjagd‘ verfälscht sein können und werden“. Da es der ukrainischen Regierung trotz aller Repressionen nicht gelungen sei, die UOK zu erschüttern, sei sie nun dazu übergegangen, sie direkt zu verbieten. Diese Maßnahme „kann alle früheren historischen Repressionen gegen die UOK übertreffen, darunter die Verfolgungen während der Union von Brest, und ist vergleichbar mit so traurigen historischen Präzedenzfällen wie den Verfolgungen im Römischen Reich zur Zeit Neros und Diokletians, der sog. Dechristianisierung Frankreichs während der Französischen Revolution im 18. Jahrhundert, den atheistischen Repressionen in der Sowjetunion und der Zerstörung der Albanischen Orthodoxen Kirche in den 1960er Jahren durch das Regime von Enver Hoxha“. Besonders kritisierte der Hl. Synod die „negative Rolle“ von Patriarch Bartholomaios von Konstantinopel und seiner Hierarchen. Er trage eine persönliche Verantwortung für die „Organisation der Verfolgungen der Gläubigen der UOK“.
Patriarch Bartholomaios hatte im August in einem Gespräch mit Zelenskyj beteuert, er unterstütze alles, was zum Wohl der Ukraine beitragen solle, darunter auch die Initiative zur spirituellen Unabhängigkeit.
Sehr kritisch äußerte sich Papst Franziskus am 25. August. Mit Schmerzen verfolge er die Kampfhandlungen in der Ukraine und in Russland. Angesichts des neuen Gesetzes in der Ukraine fürchte er um die Religionsfreiheit: „Wer betet, tut nichts Böses. Wenn jemand Verbrechen gegen sein Volk begeht, ist er diesbezüglich schuldig, aber man kann nicht Böses getan haben, weil man gebetet hat.“ Wer beten wolle, solle das in der Kirche seiner Wahl tun und „keine christliche Kirche sollte direkt oder indirekt verboten werden: Die Kirchen sind unantastbar“, sagte Franziskus weiter. Präsident Zelenskyj wies die Kritik des Papstes zurück und warf ihm vor, in seiner Haltung zum Gesetz von der russischen Propaganda beeinflusst zu sein. Moskau versuche verschiedene religiöse Institutionen in Europa zu beeinflussen. Daher müsse die Ukraine weiterhin um einen „wahrheitsgetreuen Informationsraum“ kämpfen, damit dieser nicht „mit russischen Informationen gefüllt“ werde. Es sei wichtig, nicht den Kontakt zum Vatikan, zu Italien, ganz Europa und den USA zu verlieren.
Besorgt über die Religionsfreiheit und den sozialen Zusammenhalt in der Ukraine zeigte sich auch der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK). Er sei „zutiefst alarmiert über das Potential einer ungerechtfertigten Kollektivstrafe einer ganzen Religionsgemeinschaft“. Er rief die Ukraine dazu auf, bei den Untersuchungen gegen Religionsgemeinschaften „fair und unvoreingenommen“ vorzugehen.
Metropolit Epifanij (Dumenko), das Oberhaupt der OKU, rief am 15. August in einem Statement die UOK zum Dialog auf. Die UOK habe früher drei Bedingungen gestellt, um einen Dialog mit der OKU zu beginnen. Diesen könne die OKU aber „aus objektiven und unabhängigen Gründen“ nicht nachkommen. Deshalb rief er nun den Vorsteher und die Geistlichen der UOK auf, ohne Vorbedingungen einen Dialog aufzunehmen. Obwohl seine zahlreichen früheren Appelle unbeantwortet geblieben seien, wende er sich erneut an die UOK und „bitte, dieses Ersuchen, diese ausgestreckte Hand nicht ohne konstruktive Antwort zu lassen“.
Gläubige der UOK haben in einem offenen Brief an Metropolit Onufrij (Berezovskij), das Oberhaupt der UOK, appelliert, auf die staatliche Forderung einzugehen, einen Brief an die ROK über den Austritt der UOK aus ihren Strukturen und die Benachrichtigung der anderen orthodoxen Lokalkirchen darüber vorzulegen. Die UOK habe schon im Mai 2022 ihre Trennung von der ROK verkündet, aber die ukrainischen Behörden und Gesellschaft forderten, dass die UOK diese Entscheide mit offiziellen Briefen belege. Das würde helfen zu vermeiden, dass Gemeinden verboten und Kirchgebäude enteignet würden. Abschließend baten die Gläubigen, sie nicht allein zu lassen. Auch sie beteten für die Bewahrung ihrer Kirche, aber es seien auch „konkrete Schritte zu ihrem Schutz nötig“. Bis am 27. August unterzeichneten über 350 Personen den Brief, darunter mehrere Geistliche. (NÖK)