Skip to main content

Prüfung durch das Gebet. Welche Perspektiven haben die Kriegsgegner in der ROK?

21. März 2024

Ksenia Luchenko

Am 8. März 2024 hat der russische Patriarch Kirill den Beschluss des Kirchengerichts vom Januar bestätigt, Erzpriester Alexej Uminskij die Priesterwürde abzuerkennen. Uminskij ist einer der bekanntesten und angesehensten orthodoxen Geistlichen, in den 30 Jahren seines Dienstes waren Tausende Moskauer seine Gemeindemitglieder. Als formaler Grund für die Verurteilung wurde Uminskijs Ungehorsam gegenüber der geistlichen Führung angegeben, informell ging es um seine von der offiziellen Kirchenlinie abweichende Position zum Krieg gegen die Ukraine. Uminskijs Fall war bei weitem nicht das erste Beispiel für Repressionen der Leitung der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) gegen die Kriegsgegner unter den Geistlichen. Ein Anlass, darüber nachzudenken, was für eine Zukunft diesen Teil der orthodoxen Geistlichkeit erwartet.

Geschlossenheit der Reihen
Grund für die Aberkennung der Priesterwürde von Uminskij war seine Weigerung, das vom Patriarchat vorgeschriebene Gebet über den Sieg Russlands zu beten. Abgesehen davon beschäftigte er sich nie mit politischer Agitation, nahm an keinerlei Aktionen teil, ging an keine Treffen. Ja, er reiste zu Michail Chodorkovskij ins Straflager, weil dieser die Beichte und ein seelsorgerisches Gespräch benötigte. Aber genauso besuchte Uminskij in den Gefängnissen auch gewöhnliche Gefangene, unabhängig davon, wofür und wie sie verurteilt waren. Beispielsweise besuchte er die Studentin Varvara Karaulova, die im Gefängnis landete, weil sie sich den Islamisten in Syrien angeschlossen hatte. Er verteidigte den karelischen Historiker Jurij Dmitrijev, war Zeuge der Verteidigung im Prozess zur Liquidierung von „Memorial“, kam zu Gerichtsverhandlungen, beispielsweise im „Moskauer Fall“, um die Beschuldigten zu unterstützen, schloss sich der Forderung, Ärzte zu Alexej Navalnyj zu lassen, an – einfach, weil man einem Menschen medizinische Hilfe nicht verweigern darf. Über politische Vorlieben sprach er öffentlich nicht.

Während dieser ganzen Zeit blieb Uminskij ein gewöhnlicher Geistlicher der ROK, diente gemeinsam mit anderen Geistlichen der Moskauer Eparchie, unterwarf sich allen Regeln und Kanones. Zusätzlich leitete er die Sendung „Orthodoxe Enzyklopädie“ auf TVC, jetzt zeigen sie in der Sendung das „Donezker Journal“ über „Menschen, die im Donbass für die russische Kultur kämpfen“. Uminskij hatte einen makellosen Ruf als spiritueller Lehrer, Wohltäter und Förderer der Künste. Aber im Krieg änderte sich die Situation. Seit Patriarch Kirill das Narrativ für die Invasion der Ukraine mit der politischen Führung völlig teilt, indem er diese auf allen Ebenen in Wort und Tat unterstützt, wird die Weigerung, sich an dieser Unterstützung zu beteiligen, in der ROK als persönliche Beleidigung ihres Oberhaupts und Bedrohung der kirchlichen Stabilität betrachtet. Das Patriarchat sieht jetzt in einer Antikriegshaltung seiner Kleriker eine gefährliche Diskreditierung in den Augen der Staatsgewalt, ein Zeichen, dass die Kirche schwach sei und keine Geschlossenheit in ihren Reihen gewährleisten könne, was ihre Beziehungen zum Staat bedroht.

Uminskijs Fall ist einer der prominentesten, aber bei weitem nicht der einzige. Auf der Liste von Opfern, die wegen ihrer Antikriegsposition von kirchlichen oder staatlichen Behörden verfolgt werden, die das Projekt „Christen gegen Krieg“ dokumentiert, stehen 28 Geistliche der ROK aus Russland, fünf aus Belarus, einer aus Kasachstan und sechs aus Litauen. Die Mehrheit von ihnen erhielt nur kirchliche Strafen unterschiedlicher Schwere (Entlassung, Verbot des Dienstes und Aberkennung der Priesterwürde), aber gegen einige wurden administrative Verfahren eingeleitet und Bußen aufgrund der „Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation“ ausgesprochen. Dazu gibt es zwei formale Gründe: das Unterschreiben des Aufrufs von Geistlichen gegen den Krieg und die Abänderung des Textes des „Gebets über die Heilige Rus“ oder die Weigerung, es zu rezitieren, was bei Uminskij der Fall war.

Frieden, Sieg, Gebet
Im Juni 2014, als der militärische Konflikt mit der Ukraine gerade erst begonnen hatte, wandte sich Patriarch Kirill „an die ganze Russische Kirche“ und gab seinen Segen, dass in allen Kirchen der ROK das Gebet „Über das Ende des brudermörderischen Kampfs“ gelesen wird. Es war kurz, das Wort „Friede“ kam nicht vor, aber auch nicht „Sieg“, nur die Bitte an Gott, das „Wehklagen deiner Herde in den ukrainischen Ländern“ zu stillen. Es wurde acht Jahre lang gebetet, von einigen fleißiger, von anderen weniger, aber es wurde ihm keine besondere Bedeutung beigemessen.

Bald nach dem Beginn des Großangriffs verschickte am 3. März 2022 der damalige Geschäftsführer des Moskauer Patriarchats, Metropolit Dionisij (Porubaj), an alle Eparchien einen Zirkularbrief mit einem neuen Text des „Gebets über die Wiederherstellung des Friedens“. Es war länger und sein Sinn war gleichsam eine Bitte um Frieden, aber es kamen schon die „Heilige Rus“ und ihre Feinde vor: „Die von fremder Sprache, die Streit suchen und gegen die Heilige Rus zu Felde ziehen, – ächte und stürze ihre Absichten“. Geistliche, die gegen den Krieg waren, konnten diesen Text nicht vortragen. „Ich habe sofort gesagt, Entschuldigung, ich habe dort Verwandte, und ich habe vom ersten Tag an nicht ein Mal dieses Gebet vorgetragen. Man schob mir einen Zettel unter, ich wies ihn ab und setzte den Dienst fort“, erzählt ein Geistlicher, der später Russland verlassen musste.

Beim ersten Sonntagsgottesdienst nach der Verkündigung der Mobilisierung am 25. September 2022 verlas Patriarch Kirill die dritte Version des Gebets. Neben der Heiligen Rus, gegen die „diejenigen, die Streit wollen, zu Felde gezogen sind“, stehen darin die Worte: „Erhebe dich, Gott, zur Hilfe deiner Leute und gib uns mit Deiner Macht den Sieg.“ In dieser Redaktion wurde das Gebet zu einem Test der Vertrauenswürdigkeit und persönlichen Loyalität zum Patriarchen, seinem angeblichen Verfasser. Die Weigerung, diese Worte am Ende jeder Liturgie auszusprechen, wird als Eidbruch behandelt – eine Sünde, für die die 25. Apostolische Regel die Aberkennung des Rangs vorsieht (die Sammlung von 85 „Regeln der heiligen Apostel“ ist die Grundlage des kanonischen Rechts).

Unter dem „Eid“, den der sich weigernde Geistliche bricht, versteht man die sog. Prisjaga, die der künftige Kleriker und sein Beichtvater vor der Weihe unterschreiben. Darin verspricht er, „seinen Dienst in allem entsprechend Gottes Wort, den kirchlichen Regeln und Anordnungen der Kirchenleitung“ zu leisten. Dieses Dokument wird in der persönlichen Akte des Geistlichen im Archiv der Eparchie verwahrt, im Fall eines Verfahrens wird die Akte eingesehen. Die Verbindung zwischen dem neuen Gebet und diesem Eid ist nicht direkt: nirgends in den Statuten der ROK steht, dass der Patriarch das Vorrecht hat, nach seinem Wunsch gottesdienstliche Fragen zu regeln und die Praxis zu ändern. Neue Gottesdiensttexte muss die entsprechende Kommission der ROK vorstellen und der Hl. Synod muss sie bestätigen. Bei keiner der drei Versionen des Gebets, die aus dem politischen Anlass des Kriegs gegen die Ukraine geschrieben wurden, wurde diese Prozedur befolgt. Ganz zu schweigen davon, dass das neue Gebet nicht Teil des Liturgieablaufs ist, sondern ein zusätzlicher, freiwilliger Text, der weder eine gottesdienstliche noch eine Bedeutung für die Glaubenslehre hat.

Geistliche, denen der Text des Gebets nicht gefiel, versuchten ihn zu ändern. Das Einfachste war, das Wort „Sieg“ durch „Frieden“ zu ersetzen. Das schien harmlos. Aber im Mai 2023 wurde Ioann Koval als erstem vom Moskauer Eparchialgericht die Priesterwürde genau wegen dieser Änderung eines Wortes aberkannt. „In den ganzen Jahren von Kirills Patriarchat hat sich herauskristallisiert, dass es nur eine Lösung, nur einen richtigen Gedanken geben kann“, sagt ein anonymer Geistlicher einer Eparchie in Zentralrussland. „Wir werden von den Behörden geknechtet und diejenigen, die nicht aktiv mit ihnen zusammenarbeiten wollen, fallen seit dem vorletzten Februar in Ungnade.“ Dieser Geistliche spricht das Gebet „Über die Heilige Rus“ nicht und führt einmal pro Woche heimlich einen Bittgottesdienst für den Frieden für ausgewählte treue Gemeindemitglieder durch: „Unser Metropolit ist Z. Ich habe genug von den Kompromissen, die ich ständig eingehen muss, um die Gemeinde zu bewahren. Aber ich versuche, das zu tun, was meinem Gewissen nicht widerspricht.“

In einer anderen Eparchie hat der Metropolit selbst heimlich seinen Segen zu alternativen Gebeten gegeben. „Statt dessen, was sie in Moskau empfohlen haben, sprechen wir das Gebet des Starzen Sofronij Sacharov über die Vermehrung der Liebe. Bisher ist das Gebet des Patriarchen noch nicht mit einem Treueschwur gleichgesetzt worden. Aber ich bete es sowieso nicht“, sagt ein Geistlicher, der in einem kleinen Dorf weit weg von jeglichen Kontrollen dient.

In zwei Eparchien in Sibirien und einer im Fernen Osten wird bestätigt, dass das Gebet obligatorisch ist und der Erzbischof das überprüft. „Unser Erzbischof ist allzu vorsichtig, er macht den Mund nicht zu weit auf, aber im Grunde ist er nicht Z. Aber er wird einen Priester für die Weigerung, das Gebet zu sprechen, nicht unter Druck setzen“, erzählt einer von ihnen.

Die Macht der Denunziation
Paradoxerweise ist während des Kriegs die Rolle der Laien in der ROK gewachsen. Aber überhaupt nicht so, wie es die „kirchlichen Liberalen“ angestrebt hatten, die die Prinzipien des Gemeindelebens der apostolischen, vorimperialen Zeiten wiederbeleben wollten: die Wahl der Geistlichkeit, die Verantwortung für den Unterhalt der Kirche und das „Laienapostolat“ nach katholischem Vorbild. Die Laien haben Macht über die Geistlichkeit erlangt, aber die Quelle dieser Macht sind Denunziationen. Den Antikriegsgeistlichen graut es ein wenig vor ihren eigenen Gemeindemitgliedern. Das Gebet über den Sieg nicht sprechen, kann man nur unter Leuten, denen man vertraut, sonst geht man ein Risiko ein. Jede Predigt über den Frieden könnte die letzte sein.

Ganz am Anfang des Kriegs, im März 2022, sagte der Priester Ioann Burdin aus der Eparchie Kostroma in einer Predigt, an der zehn Personen anwesend waren, dass er für den Frieden in der Ukraine bete. Zwei Stunden später war die Polizei in der Kirche und hielt eine Diskreditierung der Streitkräfte fest. Aber Burdin schrieb weiterhin Antikriegsposts in den sozialen Netzwerken und sprach das Patriarchengebet nicht, daraufhin wurde ihm der Dienst verboten. Dass Priester Ioann Koval im Gebet das Wort „Frieden“ sagte, hatten ebenfalls Gemeindemitglieder verraten.

Ende September 2023 tauchte in den sozialen Netzwerken ein Video auf: ein junger Geistlicher steht auf der Solea, neben ihm ein ergrauter Bischof, der von ihm öffentliche Reue verlangt. „Ich bin schuldig, aus Dummheit und Missverständnis ein Gebet für den Frieden gesprochen zu haben“, sagt der Geistliche unter der Drohung, dass ihm der Rang aberkannt wird. Den Geistlichen Ilija Gavryschkiv denunzierte ein Gemeindemitglied, es ist sogar sein Name bekannt: Oleg Tsarev. Dabei schickte er die Denunziation sofort auch ans Moskauer Patriarchat und an den Sicherheitsrat der Russischen Föderation. Daraufhin fuhr Bischof Adrian (Uljanov) von Rschev extra zu Gavryschkiv in den Gottesdienst und zwang ihn, vor den Gemeindemitgliedern zu bereuen, und der Denunziant filmte das.

Fast alle Geistlichen, die Repressionen durch die Kirchenleitung erfahren haben, sind Opfer ihrer Gemeindemitglieder. „Es ist den Leuten wichtig, dass jemand für ihre Nächsten (Mobilisierte oder Vertragssoldaten – Anm. K.L) betet“, erzählt ein Geistlicher aus Sibirien, der sein eigenes Gebet auf Grundlage des Patriarchengebets kreiert hat. „Den Text des Gebets versteht man über das Gehör schlecht, und um die beiden voneinander zu unterscheiden (den Text des Patriarchen und den überarbeiteten – Anm. K.L.), muss man wissen, was man sucht, und es unbedingt finden wollen. Die Bitte betrifft nicht ein ‚Gebet über den Sieg‘, sondern ein Gebet ‚rette uns, Herr, du weißt selbst wie‘.“

Er sagt, bei ihm habe es „Z-Gemeindemitglieder“, aber sie „bemitleiden mich und verraten mich nicht“. Von einem ähnlichen System des Verschweigens erzählt ein Priester aus einer Eparchie nahe von Moskau, der das Patriarchen-Gebet nicht spricht, aber versucht, Gespräche mit den Gemeindemitgliedern über den Krieg und Politik zu vermeiden: „Denunzianten gibt es scheinbar nicht, kaum jemand teilt meine Position vollständig, sie ‚bemitleiden‘ mich eher herablassend.“

Strafen und Folgen
Wenn ein Geistlicher innerhalb des Kirchensystems bestraft wird, droht ihm als Mensch und Bürger formal nichts weiter. Er kann gehen, wohin er will, die Kanones gelten außerhalb des Kirchenzauns nicht. Aber die Mehrheit der Geistlichen hat keinen anderen Beruf oder Bildung, aber sie haben große Familien, sie müssen arbeiten. Der Geistliche fällt völlig aus dem Netz der sozialen und oft auch familiären Verbindungen – alle Kontakte sind an die Beziehung der Menschen eben zum Priester verbunden, der Mensch verwandelt sich in einen Unsichtbaren. Es ist nicht einmal klar, wie man ihn ansprechen soll: er war „Vater“, und wer ist er jetzt?

Die Aberkennung der Priesterwürde ist ein schweres psychologisches Trauma, eine Identitätskrise, eine Notwendigkeit, die eigene Persönlichkeit neu aufzubauen („Teile den Kerl und geh. Wer bist du für uns? Vater Ilja? Und jetzt bist du wer? Irgendein unverständliches Iljalein. Verzieh dich jetzt“, sagte Bischof Adrian zu Priester Ilja Gavryschkiv, als er ihm mit der Aberkennung der Priesterwürde drohte). Ein ehemaliger Geistlicher kann für die Armee mobilisiert werden, weil für ihn das temporäre Abkommen des Patriarchen mit dem Verteidigungsministerium über die Aussetzung der Mobilisierung für die Geistlichkeit nicht mehr gilt. Außerdem kann aufgrund einer öffentlichen Antikriegshaltung ein Strafverfahren eingeleitet oder sonstiger Druck ausgeübt werden. Nach der Publikation des ersten offenen Briefs von Geistlichen zur Unterstützung der Verhafteten im „Moskauer Fall“ 2019, den 180 Kleriker unterschrieben hatten, interessierten sich die Regionalabteilungen des FSB für viele von ihnen: sie riefen in der Eparchie an, verlangten die persönliche Akte des Unterzeichners, aber sie beschränkten sich auf Warnungen durch die Kirchenleitung. Einigen drohten sie, dass alle Geistlichen, die in den sozialen Netzen aktiv sind oder sich sonst irgendwie öffentlich äußern, beobachtet werden.

2022 gab es nur einen bestätigten Fall einer Reaktion der Sicherheitsdienste auf den Antikriegsbrief von Geistlichen, der fast 300 Unterschriften umfasste. Ein FSB-Mitarbeiter in Tatarstan sah die Unterschrift von Priester Gleb Krivoschein und verlangte, ein Verfahren wegen Diskreditierung der Armee zu eröffnen. Krivoschein musste daraufhin eine kleine Buße zahlen.

Aus der ROK in eine andere orthodoxe Lokalkirche überzutreten, ist sehr schwierig. Ein Kleriker kann nicht auf eigenen Wunsch in einer Kirche „kündigen“ und sich von einer anderen „anwerben“ lassen, die ihm besser passt. Um in einer anderen Jurisdiktion aufgenommen zu werden, braucht es einen „Freibrief“, ein Dokument, das nur der Patriarch nach der Bewilligung durch den Hl. Synod ausstellen kann.

Natürlich können Antikriegsgeistliche, egal welchen Status sie haben, ob ihnen der Dienst verboten ist oder sie im Ruhestand sind, nicht damit rechnen, dass der Patriarch ihnen einen solchen Übertritt erlaubt. Außerdem gilt ein solcher Freibrief nur drei Monate, während derer ein neuer Dienstort gefunden werden muss. Diejenigen, die wegen des Kriegs nach Georgien oder Serbien ausgereist und einfach in den Ruhestand getreten sind, können in der georgischen oder serbischen Kirche nicht einmal als „Gäste“ Gottesdienst feiern. Die lokalen Bischöfe erlauben das ohne Freibrief nicht. Zudem sind die georgische und die serbische Kirche eng mit der ROK verbunden und werden sich wegen geflüchteter Priester nicht auf einen Konflikt einlassen.

Die Konstantinopler Alternative
Das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel macht geltend, dass es entsprechend der antiken Kanones das Recht habe, die Priesterwürde von Geistlichen wiederherzustellen, die von ihrer Kirche zu Unrecht bestraft worden seien. Die Beziehungen zwischen den Patriarchaten von Konstantinopel und Moskau sind schon lang konfliktreich, vor fünf Jahren brach die ROK die eucharistische Gemeinschaft wegen des „Tomos“ – der Schaffung der Orthodoxen Kirche der Ukraine – ab.

Da die ROK den russischen Angriff auf die Ukraine aktiv unterstützt, hat sich dieser Konflikt noch verschärft. Der Ökumenische Patriarch Bartholomaios ist daran interessiert, seinen Status als höhere Gerichtsinstanz in der Weltorthodoxie zu festigen und teilt insgesamt das westliche Verhältnis zum Krieg und zu Russland. Deshalb gab es in den letzten zwei Jahren einige erfolgreiche Beispiele von Übertritten russischer Kleriker zum Ökumenischen Patriarchat. Die besten Chancen haben „Kollektive“ – diejenigen, die mit einer bestehenden Struktur übertreten.

Im März 2022 nahm Konstantinopel die Gemeinde der ROK in Amsterdam auf, in der sowohl der Vorsteher als auch der Gemeinderat entschieden hatten, nicht Moskau unterstellt zu bleiben. Am 7. Februar 2024 registrierte das Justizministerium in Litauen das Exarchat des Patriarchats von Konstantinopel als traditionelle Religionsgemeinschaft. Dieses war entstanden, nachdem im Mai 2022 Metropolit Innokentij (Vasiljev) von Litauen sechs Klerikern wegen ihrer Antikriegsposition ihren Rang aberkannt hatte.

Für das Patriarchat von Konstantinopel sind die Entscheidungen, die Priesterwürde von sanktionierten Klerikern des Moskauer Patriarchats wiederherzustellen und sie in die eigene Jurisdiktion aufzunehmen, immer Ausnahmen und Einzelfälle. Ein solches Beispiel ist Ioann Koval, der sofort nach dem Urteil des Kirchengerichts aufgrund Drohungen gegen ihn und seine Kinder in die Türkei flog, da er nicht auch das Schicksal von Alexej Moskaljov, der wegen der Zeichnungen seiner Tochter verhaftet worden war, erleiden wollte. Seine Priesterwürde wurde bald wiederhergestellt und er wurde in den Klerus der Metropolie Pisidien aufgenommen, jetzt dient er in einer Kirche von Antalya.

Nichtsdestotrotz hat die Sorge um geflüchtete Geistliche aus Moskau für das Ökumenische Patriarchat, das historisch eine Kirche der griechischen Diaspora ist, keine Priorität. Ihre Gläubigen sind grundsätzlich Griechen und Menschen in westlichen Ländern, die sich der Orthodoxie zugewandt haben, wobei Konstantinopel in Amerika ein slawisches Vikariat und eine große ukrainische Jurisdiktion hat. Man kann aber einen Geistlichen nicht „im Nirgendwo“ wieder zum Priester machen, ihm muss ein Dienstort zur Verfügung gestellt werden, wo die Gläubigen neue Geistliche brauchen und diese versorgen können. Die Menge der Gläubigen ist konstant, offene Stellen gibt es in Europa und in Amerika kaum, außerdem können russische Geistliche meistens keine Fremdsprachen.

Ein weiteres Beispiel für einen erfolgreichen Übertritt ist Erzpriester Andrej Kordotschkin, der 20 Jahre als Vertreter der ROK in Spanien diente, davor an der Universität von Durham studiert hatte und mehrere Sprachen spricht. Kordotschkin wurde ohne Lohn in den Klerus der belgischen Eparchie des Patriarchats von Konstantinopel aufgenommen, er erhielt eine kleine Gemeinde im niederländischen Tilburg, wo der frühere Gemeindevorsteher verstorben war. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit seiner wissenschaftlichen Arbeit an einer deutschen Universität.

Das Patriarchat von Konstantinopel kann aus Russland geflüchtete Geistlichen auch nicht bei der Niederlassung in Europa oder Amerika helfen. Patriarch Bartholomaios und die höheren Kleriker seines Patriarchats besitzen die türkische Staatsbürgerschaft, aber in der Türkei ist es für russische Bürger schwierig, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. In anderen Ländern wie Armenien, Georgien, Serbien und Kasachstan können Geistliche des Moskauer Patriarchats ohne Visum leben, aber sie müssen eine gewöhnliche weltliche Arbeit suchen und sich von der Vorstellung verabschieden, weiterhin Dienst zu leisten (es gibt Fälle von Priestern, die als Taxifahrer arbeiten). Um in die Länder der EU einreisen und dort bleiben zu dürfen, gibt es für Geistliche, wie auch für alle anderen, zwei Wege: ein humanitäres Visum oder die Aufnahme eines Studiums oder eine Arbeitsstelle. Für ersteres sind Beweise für Verfolgung und Bedrohung nötig, für zweiteres zumindest Sprachkenntnisse und finanzielle Mittel für die erste Zeit.

Perspektiven
In der ROK gibt es einige Kriegsgegner und gegenüber der Position der Kirchenleitung und Patriarch Kirill persönlich kritisch eingestellte Geistliche und noch viel mehr solche Laien. Ihr Anteil an der Gesamtheit des russischen Klerus macht ungefähr gleich viel aus, wie der Anteil von Bürger:innen mit solchen Ansichten in Russland insgesamt. Das kann indirekt durch persönliche Gespräche, Posts in den sozialen Netzwerken und Kommentare in Medien sowie Inhalte geschlossener Chats belegt werden. Unter ihnen gibt es solche, die als Liberale bezeichnet werden können. Umgekehrt gibt es auch Konservative. Gemeinsam ist ihnen, dass sie nach einer Normalisierung des Kirchenlebens streben, es in einen kanonischen Rahmen lenken wollen und gegen die politische Ideologisierung sind.

In Russland sind keinerlei Initiativen und Diskussion möglich, ganz schweigen von praktischen Schritten zu einer Veränderung, solange das Putin-Regime und die von ihm gestützte Alleinherrschaft von Patriarch Kirill andauert. Die maximal mögliche Solidarität, die als Effekt einen Appell an die „Eigenen“ hat und den Menschen ein wenig Trost spendet, ist das Unterschreiben von Petitionen und offenen Briefen. Den Brief zur Unterstützung von Alexej Uminskij haben 12‘000 Menschen unterschrieben, unter ihnen auch Geistliche.

Nichtsdestotrotz hat die Religion das Potenzial, künftige gesellschaftliche Veränderungen zu beeinflussen, sie formt die Identität, die Grundlage der Solidarität und die moralischen Grundlagen für das Treffen von Entscheidungen. Die russische Orthodoxie als sozialer und kultureller Faktor verschwindet nicht, wie auch immer die weitere Entwicklung des Landes sein wird.

Das versteht die belarusische Opposition gut: 2020 wurde die unabhängige ökumenische Organisation „Christliche Vision“ gegründet, die Geistliche und Laien verschiedener Konfessionen vereint, von denen inzwischen die meisten in der Emigration leben. Sie koordiniert die Hilfe für christliche Aktivisten und Geistliche im Exil, unterstützt politische Gefangene, bereitet eine Religionsgesetzgebung für ein künftiges unabhängiges Belarus vor und arbeitet mit europäischen und internationalen Institutionen zusammen, die die religiöse Sphäre regulieren. „Christliche Vision“ ist nicht Teil der belarusischen demokratischen politischen Strukturen, aber ihre Fachleute beraten diese wenn nötig. Dank ihnen kennt Svjatlana Tsichanouskaja die religiösen Bedürfnisse ihrer Wählerinnen und Wähler, berücksichtigt deren Interessen und kann bei Verhandlungen über eine Unterstützung belarusischer Gemeinden in anderen Ländern helfen. Sie trifft religiöse Anführer und stellt deren Anliegen adäquat vor. Letzten Sommer trat Tsichanouskaja in Tallinn an der Eröffnung der Generalversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) auf, dem größten europäischen ökumenischen Forum, an dem auch Patriarch Bartholomaios teilnahm.

In den russischen oppositionellen Foren und Organisationen ist Religion bisher ein blinder Fleck. Die emigrierten Geistlichen sind auf sich selbst gestellt und nicht durch gemeinsame Aufgaben vereint, nicht einmal durch das Lobbyieren für ihre eigenen taktischen Interessen, ganz zu schweigen von einer strategischen Vision für die Zukunft. Die Belarusen müssen ihnen „brüderliche Hilfe“ bei der Lösung alltäglicher und juristischer Fragen leisten. Unlängst ist das Projekt „Frieden für alle“ entstanden, um Mittel für den Lebensunterhalt von Geistlichen zu sammeln, die aufgrund ihrer Antikriegshaltung in Not sind. Aber die Organisatoren des Projekts verfügen bisher nur über bescheidene finanzielle Hilfe.

Für die russischen Orthodoxen, Kleriker wie Laien, gibt es im Exil drei Wege. Entweder finden sie, wie die Belarusen, selbst den Willen zu politischem Handeln. Dann erhalten die Risiken der Antikriegshaltung nicht nur als individuelle ethische Wahl einen Sinn, sondern auch als gemeinschaftliche Sache. Sie könnten als eigenständige Fraktion in die große demokratische Antikriegsbewegung eingehen und darin die Interessen ihrer Mitbrüder in Russland vertreten, die keine Stimme haben. Oder man kann „nichts tun“ und in anderen Ländern aufgehen, indem man sich an irgendwelche lokalen Gemeinden anhängt. Oder entsprechend der Trägheit einer jahrhundertelangen Unterwerfung unter den Stärkeren und Reicheren, das heißt unter die Macht, die Schirmherrschaft von einer der oppositionellen politischen Kräfte gewinnen und in deren Interessen handeln. Das heißt, nicht im Format eines Austauschs auf Augenhöhe und einer beidseitig vorteilhaften Partnerschaft zu agieren, sondern in der gewohnten Rolle eines ideologischen Bedienens.

Ksenia Luchenko, Gastwissenschaftlerin am European Council on Foreign Relations.

Der Text erschien zuerst auf Russisch auf Carnegie Politika

Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.

Bild: Das Innere einer Kirche in Tschapajevsk, in der Region Samara (Foto: Shutterstock)