Auf Konfrontationskurs. Kirchenleitung und Regierung in Armenien

Harutyun G. Harutyunyan
In den letzten Jahren haben sich die Spannungen zwischen der Armenischen Apostolischen Kirche und der Regierung deutlich verschärft. Diese Konfrontation ist allerdings nicht religiös bedingt, sondern politisch und betrifft nun auch die nationale Sicherheit, wie die jüngsten Verhaftungen von zwei Erzbischöfen zeigen. Zugleich spiegeln die aktuellen Ereignisse tiefere gesellschaftliche Spannungen wider.
Ursachen und Entwicklungsstufen des Konflikts
Die Spannungen zwischen den beiden Seiten reichen bis zur sog. „Samtenen Revolution“ im Frühling 2018 zurück, als die Kirchenleitung sich sehr skeptisch gegenüber den Protestierenden verhielt und sie als „Straßenjugend“ bezeichnete. Unter dem neuen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan änderte sich die Einstellung des Staates gegenüber der Kirche: Die neue, EU- und reformorientierte Regierung strebte einen moderneren und säkulareren Staat an. Daher kritisierte sie oft Vertreter der Kirche wegen mangelnder Transparenz, konservativer Haltungen und politischer Einmischung an der Seite des alten bzw. moskautreuen Regimes. Die Kirchenleitung ihrerseits nahm eine Abwehrhaltung ein und kritisierte die Regierung Paschinjan mehrfach öffentlich.
Ein deutlicher Bruch erfolgte nach der Niederlage im Zweiten Karabach-Krieg 2020, als die beiden Katholikoi von Etschmiadzin und Kilikien den Rücktritt des Ministerpräsidenten forderten. Diese Kritik verschärfte sich noch nach der Vertreibung von ca. 120.000 Armeniern aus Berg-Karabach im Herbst 2023. Seitdem haben mehrfach hoch- und mittelrangige Kirchenvertreter die Regierung öffentlich wegen ihrer zurückhaltenden Einstellung und der Ablehnung jedweder Idee zur Rückeroberung von Karabach kritisiert.
Ein weiteres Konfliktfeld waren von der Regierung angestrebte Bildungsreformen, die eine Reduzierung des Religionsunterrichts bzw. der Geschichte der Armenischen Apostolischen Kirche vorsahen. Dies wie auch die Umbenennung des Schulbuches für „Armenische Geschichte“ in die „Geschichte Armeniens“ stieß auf Ablehnung der Kirche, weil dadurch – so die Kirchenleitung – der Bezug auf die historischen Territorien verloren gehe, der Genozid geleugnet würde und ein unakzeptabler Konformismus mit der Niederlage im Karabach-Krieg propagiert werde.
Insbesondere drei Erzbischöfe waren mit ihrer Kritik sehr lautstark. Der Kanzler von Etchmiadzin, Erzbischof Arschak Chatschatrjan, sprach zuerst von der Verdammnis derjenigen, die den Genozid an den Armeniern im Jahr 1915 vergessen machen wollten. Der Vorsteher der Diözese von Schirak, Erzbischof Mikael Ajapahjan gab fast täglich Interviews, machte die Regierung für den Verlust von Berg-Karabach verantwortlich und forderte sogar einen bewaffneten Putsch. Erzbischof Bagrat Galstanjan von der Diözese Tawusch ging jedoch am weitesten und erwirkte von der Kirchenleitung eine temporäre Suspendierung vom kirchlichen Dienst, um die Protestbewegung gegen Paschinjan persönlich leiten zu können. Seine Bewegung trug den Namen „Heiliger Kampf“. Am 9. Mai 2024 versammelten sich seine Anhänger auf dem Platz der Republik in Jerewan, und Galstanjan stellte Paschinjan ein Rücktrittsultimatum. Als neuen Premierminister schlug er sich selbst vor.
Ministerpräsident Paschinjan und seine Partei bezeichneten dagegen die Kirchenleitung als Überbleibsel des ehemaligen hochkorrupten und autokratischen Regimes und kritisierten ihren negativen Einfluss auf das politische Leben im Land. Während die neue Regierung Transparenz in die Finanzen der Kirche zu bringen versuche, unter anderem durch Steuervorschläge, lehnten Katholikos Karekin II. und seine Anhänger dies ständig ab.
Die Auseinandersetzung zwischen Kirchenleitung und Regierung verschärfte sich mit der Identitätskrise nach der Niederlage gegen Aserbaidschan, als Armenien auch seinen strategischen Partner Russland zumindest ideologisch verlor. Nach der Niederlage im letzten Karabach-Krieg und dem Verlust einer historischen Provinz, wie sich die de facto unabhängige Republik von Arzach betrachtete, sowie der Eroberung von mehr als 100 km2 armenischen Staatsgebiets in den Regionen Syunik, Vayots Dzor und Gegharkunik durch die aserbaidschanische Armee, strebte die Regierung eine aufgezwungene Versöhnung mit Baku an. Zudem setzte die Regierung auf eine Annäherung an den Westen, statt der nutzlosen Bruderschaft mit Moskau. Dies waren allerdings Positionen, die von der Kirchenleitung entschieden abgelehnt wurden. Sogar Geistliche, die ebenfalls einen Friedenskurs anstrebten, wurden von der Kirchenleitung kritisiert.
Sowohl der Katholikos als auch die ihn beratende Geistliche Synode und die Diözesanbischöfe aus Armenien bezeichneten in gemeinsamen Stellungnahmen jedwede Art des Verzichts auf Berg-Karabach als „Verrat der Heimat“. Auch in seinen Predigten äußerte Karekin II. Besorgnis und sprach über die Gefährdung der nationalen Sicherheit. Er warf der Regierung Versagen im Krieg und mangelndes Mitgefühl für die Vertriebenen vor. Auch die neue Kulturpolitik mit der Reduzierung kirchengeschichtlicher Inhalte im Schulunterricht sowie andere Reformen im Bildungssystem wurden angegriffen. Die Kirche sah darin eine Attacke auf das nationale Erbe und ihre traditionelle Rolle in der Erziehung. Dazu kamen weitere ethische und gesellschaftliche Fragen, wie z. B. Geschlechtergleichstellung, die in der Kirche auf Widerstand stießen. Die Offenheit der Regierung für gesellschaftliche Liberalisierung wurde von konservativen Geistlichen als „moralischer Verfall“ interpretiert.
Aktuelle Eskalation und Bruch mit der Regierung
Zu einer weiteren Eskalation der öffentlichen Rhetorik trug Paschinjan mit seinen Facebook-Vorwürfen Ende Mai bei. Laut dem Ministerpräsidenten habe Karekin II. sein Zölibatsgelübde gebrochen und uneheliche Kinder bekommen, daher solle der Katholikos sein Amt abgeben. Kurz zuvor war Karekin II. in Minsk bei der Eröffnung einer armenischen Kirche gewesen. Sein Besuch im Land des Diktators Lukaschenka wurde scharf kritisiert. Auch sein nächster Besuch bei einer internationalen Konferenz in der Schweiz zum Schutz des Kulturerbes von Arzach rief öffentliche Debatten im Land hervor. Denn die Erzbischöfe Chatschatrjan und Ajapahjan stellten den Einsatz des Kirchenoberhaupts für eine Freilassung der armenischen Geisen in Baku und eine Rückkehr der Karabach-Armenier in ihre Heimat in einen Gegensatz zum angeblichen „Defätismus“ und „Impotenz“ des Premierministers.
Nicht nur Paschinjan, sondern auch seine Frau Anna Hakobjan und mehrere Abgeordnete der Regierungspartei begannen danach eine grobe und persönliche Sprache gegenüber hochrangigen Geistlichen zu verwenden. Dies veranlasste den Obersten Geistlichen Rat der Kirche, der Regierung vorzuwerfen, die spirituelle Ganzheit Armeniens zu untergraben und spaltende Taktiken zu verfolgen. So reagierte dieses kirchliche Gremium am 2. Juni 2025 mit einer scharfen Erklärung, in der es Paschinjans Rhetorik als „profan“ und „ungehörig“ kritisierte. Der Oberste Geistliche Rat verurteilte die Haltung der Regierung als „eine Bedrohung für die nationale Einheit“. Der Rat warf allen Gegnern vor, „die Beziehungen zwischen Kirche und Staat zu politisieren“ und warnte vor „zerstörerischen Auswirkungen auf die armenische Staatlichkeit“.
Daraufhin wurde Erzbischof Galstanjan mit einigen Anhängern seiner Bewegung des „Heiligen Kampfs“ verhaftet bzw. in zweimonatige Untersuchungshaft genommen. Laut Staatsanwaltschaft wurden in ihren Häusern unter anderem Waffen, Sprengstoff, Stadtpläne sowie eine detaillierte schriftliche Beschreibung eines zunächst psychologischen Drucks auf die Gesellschaft und anschließend eines bewaffneten Regierungssturzes gefunden. Interessant ist, dass in diesem Plan auch ein Kapitel über die Kirche stehen soll, die Paschinjan und seine Familienmitglieder bereits im September 2024 exkommunizieren sollte. Außerdem wurde auch eine etwa 18-minutige Tonaufnahme von der Staatsanwaltschaft veröffentlicht, die während operativer Untersuchungen in letzten zwölf Monaten geheim aufgenommen und zusammengestellt worden sei. In der Aufnahme spricht Galstanjan unter anderem über die „Erschießung von ein paar Leuten“, „Angriffe auf öffentliche Verkehrsmittel“ und die „Geiselnahme der Abgeordneten im Parlament“ mit dem Ziel des Regierungssturzes. Ihm wird deshalb nun vorgeworfen, eine Absetzung der Staatsmacht durch eine terroristische Sabotage und die Rekrutierung bewaffneter ehemaliger Sicherheitskräfte geplant zu haben. Diese Vorwürfe bestreitet sein Anwalt.
Erzbischof Mikael Ajapahjan unterstützte seinen geistlichen Bruder und bestätigte in Interviews am 21. Juni 2025 und 3. Februar 2023, dass er ebenso für einen bewaffneten Putsch sei. Solche Behauptungen – so der Primas der Diözese von Schirak – habe er seit dem letzten Karabach-Krieg von 2020 mehrfach gegenüber den vorherigen Präsidenten Robert Kotscharjan und Sersch Sargsjan sowie gegenüber verschiedenen ehemaligen Generälen und mittelrangigen Offizieren geäußert. Aus unbekannten Gründen wollte ihn der nationale Sicherheitsdienst genau am 27. Juni in Etchmiadzin festnehmen, als Ajapahjan bei einer großen kirchlichen Versammlung aller Geistlichen aus der Republik als Koordinator auftreten wollte. Das führte zu Zusammenstößen zwischen den Spezialeinheiten und Geistlichen. Die Glocken der Kathedrale wurden geläutet und die Gläubigen nach Etchmiadzin „zur Rettung der Kirche“ gerufen. Ajapahjan erschien später jedoch freiwillig zur Vernehmung und wurde ebenfalls in Untersuchungshaft genommen.
Die Vertreter der Regierungspartei gehen von einer umfassenderen Verschwörung „kriminell-oligarchischer Geistlicher“ aus, an der auch der russisch-armenische Milliardär Samvel Karapetjan beteiligt gewesen sein soll, der ebenfalls Mitte Juni wegen seiner gewalttätigen Rhetorik über „die Lösung des Problems mit eigenen Mitteln“ festgenommen wurde. Die Kirchenleitung bezeichnete diese Festnahmen als „einen politisch orchestrierten Angriff“, der darauf abziele, „eine jahrhundertealte nationale Institution außer Gefecht zu setzen“.
Reaktionen der Bevölkerung und Auswirkungen für die Zukunft
Die Reaktionen in den sozialen Medien auf die jüngsten Vorgänge zeigen, dass die armenische Gesellschaft sowohl in Armenien als auch in der Diaspora in dieser Frage gespalten ist. Während konservative Bevölkerungsgruppen weiterhin der Kirche nahestehen und dadurch auch prorussische Kräfte vorziehen, unterstützen viele und vor allem jüngere Menschen die Reformen der Regierung, die Frieden in die Region bringen und das Land nach Westen ausrichten sollen. Meinungsumfragen zeigen, dass das Vertrauen in die Kirche tendenziell abnimmt, insbesondere bei der jüngeren Generation und nicht nur in den Großstädten, sondern auch in den ländlichen Gebieten.
Auch die internationalen Reaktionen fallen gemischt aus: Der russische Außenminister Sergej Lavrov rief zur allgemeinen „Zurückhaltung“ und zum „Schutz der Armenischen Kirche“ auf. Eine merkwürdige Haltung, wenn man Moskaus Schweigen zur Zerstörung von armenischen Kirchen in Berg-Karabach in Betracht zieht. Der französische Präsident Emmanuel Macron stellte sich hinter die armenische Regierung und sprach sich für einen Schutz der demokratischen Rechtsordnung aus.
Die Bürger wissen nun, dass die Konfrontation zwischen der Armenischen Kirche und dem Staat ein zentrales Thema in der Innenpolitik bleiben dürfte, weil im Sommer 2026 Parlamentswahlen anstehen. Unabhängige Beobachter empfehlen beiden Seiten, einen aktualisierten Rechtsrahmen zur Definition der Beziehungen zwischen Staat und Kirche – statt eines emotionalen Schlagaustausches – anzustreben. Die schwierige Herausforderung besteht darin, einen Konsens zu finden, der sowohl die Rolle der Kirche als kulturelle Institution respektiert als auch die säkularen Prinzipien eines modernen Staates wahrt.
Die anhaltende Pattsituation – angetrieben von mehreren ideologischen, politischen, aber auch persönlichen Konflikten – ist mehr als ein Streit zwischen zwei Institutionen. Sie berührt Kernfragen der demokratischen Ordnung, der nationalen Identität, der altorientalisch-orthodoxen Frömmigkeit und der geopolitischen Ausrichtung Armeniens. Angesichts der bevorstehenden Wahlen 2026 besteht jedoch die Gefahr, dass diese Konfrontation zu einer noch tieferen Polarisierung führt. Leider scheint keine der Konfliktparteien kompromissbereit. Für viele Armenier besteht daher die schwierige Aufgabe darin, den gegenseitigen Respekt in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat wiederherzustellen und sich nicht noch mehr in die destruktiven Konfrontationen in der Öffentlichkeit oder gar auf der Straße mit einem Bürgerkrieg hineinziehen zu lassen.
Dr. Harutyun G. Harutyunyan, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Interkulturelle und Religionswissenschaftliche Studien und Lehrbeauftragter an der Theologischen Fakultät der Staatlichen Universität von Jerewan/Armenien.
Foto: Idealbild der Zusammenarbeit von Kirche und Staat in Etschmiadzin: Gregor der Erleuchter (links) und der erste getaufte König Armeniens, Trdat III. (Foto: Shutterstock.com).