Armenien: Ministerpräsident greift Kirche an
Der seit längerem schwelende Konflikt zwischen dem armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan und der Armenischen Apostolischen Kirche eskaliert zusehends. Paschinjan startete am 29. Mai eine Serie von Vorwürfen an die Kirche, als er an einer Kabinettsitzung behauptete, armenische Kirchen seien in „Lagerhallen“ verwandelt worden. Kacheln, Zementsäcke und anderes Baumaterial würden sichtbar aufbewahrt. Belege für seine Aussage lieferte Paschinjan nicht, sein stellvertretender Stabschef veröffentlichte tags darauf entsprechende Bilder auf Facebook.
Für seine Bemerkungen wurde Paschinjan von Kirchenmitgliedern, der Opposition und anderen Kritikern kritisiert, worauf er begann, Geistlichen in den sozialen Medien Fehlverhalten vorzuwerfen. So unterstellte er einem nicht identifizierten hohen Kirchenvertreter eine Affäre und stellte infrage, ob die Bischöfe sich ans Zölibat hielten. Weiter forderte er Konsequenzen für Verstöße gegen das Zölibatsgelübde, fehlbare Geistliche sollten ihr Amt und ihren Rang verlieren. Unterstützt wurde er von Mitgliedern der Regierungspartei Zivilvertrag und seiner Frau, Anna Hakobjan. So bezeichnete Hakobjan armenische Geistliche als „führende Pädophilen und hauptsächliche verrückte Perverse des Landes“.
Paschinjan steigerte seine Angriffe und unterstellte am 2. Juni dem Oberhaupt der Kirche, Katholikos Karekin II, gegen das Zölibat verstoßen und ein Kind zu haben. Sollte sich das bewahrheiten, könne dieser nicht länger die Kirche leiten. Er habe das Thema aufgegriffen, weil er als Gläubiger der Armenischen Apostolischen Kirche darin eine „Bedrohung der spirituellen Sicherheit“ sowie als Ministerpräsident eine „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ sehe. Außerdem forderte er am 30. Mai, dass der Staat bei der Wahl des Katholikos eine „entscheidende Stimme“ haben müsse, und dass die Kandidaten einer „Integritätsprüfung“ unterzogen werden. Diese Frage müsse „ein für alle Mal“ geklärt werden. Zwischen seinen Angriffen auf die Kirche und ihre Vertreter publizierte der Ministerpräsident immer wieder Bibelzitate.
Paschinjans Posts zogen sowohl wegen ihres Inhalts als auch wegen der harschen Ausdrucksweise verbreitete Kritik auf sich. Sowohl Menschenrechtler als auch Oppositionelle kritisierten die Einmischung in kirchliche Angelegenheiten in einem säkularen Staat. Rund 15 NGOs verurteilten insbesondere Posts mit Informationen über die angebliche Geliebte eines Geistlichen scharf. Nach einem Vorgeplänkel auf Facebook kam es im Kloster Marmaschen in der Provinz Schirak zu einer rabiaten verbalen Auseinandersetzung zwischen dem zuständigen Priester und einem Unterstützer Paschinjans.
Die Kirche diskutierte die Angelegenheit an einer Sitzung des Obersten Geistlichen Rats am 2. Juni und veröffentlichte eine Stellungnahme dazu. Die Sprache „voller Beleidigungen und Beschuldigungen“ sei eines Staatsmannes nicht würdig, außerdem stelle er sich über das Gesetz. Die Bischöfe warfen dem Ministerpräsidenten zudem Verletzungen der Höflichkeit, grundlegender Menschenrechte und der religiösen Gefühle Gläubiger vor. Die Kampagne ziele darauf, den Status der Kirche und ihrer Geistlichen, die im nationalen Leben und der internationalen Gemeinschaft zurecht hoch angesehen seien, zu untergraben, und die „Stimme der Kirche zum Schweigen zu bringen und ihren Einfluss im öffentlichen Leben zu vermindern“. Das Verhalten des Staatsoberhaupts spalte die Gesellschaft und gefährde die armenische Staatlichkeit, heißt es in dem Statement weiter. Dies „dient den Strategien äußerer antiarmenischer Kräfte, die von Armenophobie getrieben sind“, und sei im Einklang mit den Verleumdungen der aserbaidschanischen Propaganda gegen die armenische Bevölkerung und Kirche. Die Bischöfe riefen die zuständigen staatlichen Behörden auf, die „illegale und kurzsichtige Politik des Premierministers zu stoppen“.
Nach der Veröffentlichung des Statements bemängelten Paschinjan und die Regierungspartei, dass darin die Vorwürfe, der Katholikos habe ein Kind, nicht angesprochen wurden. Diese Frage „muss unverzüglich geklärt werden“, insistierte Paschinjan. Zugleich rief ein Mitglied der Regierungspartei dazu auf, keine Bilder oder Namen von angeblichen Geliebten und Kindern von Geistlichen zu veröffentlichen und sie nicht anzugreifen. Die Beschuldigungen richteten sich gegen Kirchenvertreter, nicht gegen ihre illegitimen Frauen und Kinder. Dennoch kursieren auch bei regierungsnahen Medien Bilder von Karekins angeblicher Tochter.
Seit dem verlorenen Zweiten Krieg um Berg-Karabach 2020 hat sich das Verhältnis zwischen der Kirche und der Paschinjan-Regierung schrittweise verschlechtert. Damals forderte Katholikos Karekin den Rücktritt Paschinjans. Zwischenzeitlich kam es zu einer vorsichtigen Annäherung, aber 2023 wiederholte das Kirchenoberhaupt diese Forderung, als Berg-Karabach endgültig von Aserbaidschan zurückerobert wurde und die gesamte armenische Bevölkerung fliehen musste. Zudem führte 2024 ein Bischof der Armenischen Apostolischen Kirche mit dem Segen der Kirchenleitung massive Proteste gegen die Regierung an. (NÖK)

Nach der Eroberung Berg-Karabachs durch Aserbaidschan im September 2023 ist die armenische Bevölkerung fast vollständig geflohen. Das ökumenische Fachgespräch nimmt die Folgen dieser Flucht bzw. Vertreibung für die Bevölkerung und ihr Kulturerbe in den Blick. Aus friedensethischer Sicht stellen sich Fragen nach der Rolle der Religionen in diesem Konflikt.
Weiterlesen

Seit der Kapitulation der armenischen Führung in Berg-Karabach hat fast die gesamte Bevölkerung das Gebiet verlassen und ist nach Armenien geflohen. Harutyun Harutyunyan berichtet von seinen Eindrücken vor Ort, über die Situation der Flüchtlinge sowie über die veränderte außenpolitische Lage Armeniens.
Weiterlesen

Die jüngsten schweren Gefechte zwischen Armenien und Aserbaidschan haben auch die Diözese Vayots Dzor in Armenien in Mitleidenschaft gezogen. Erzbischof Abraham Mkrtchyan schildert die aktuelle Lage und das Engagement der Kirche.
Weiterlesen

In einem Brief an die deutsche Außenministerin fordern mehrere Wissenschaftler:innen die Bundesregierung auf, zu Aserbaidschans völkerrechtswidriger Aggression gegenüber Armenien klar Stellung zu beziehen und alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente zu ergreifen, um Aserbaidschan von weiteren Angriffen abzuhalten.
Weiterlesen

Rund 30 internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben im Juli an einer Konferenz über das kulturelle Erbe von Bergkarabach und seine aktuelle Gefährdung diskutiert und einen gemeinsamen Aufruf zu dessen Schutz publiziert.
Weiterlesen

Gut ein Jahr nach dem zweiten Karabach-Krieg leiden große Teile der armenischen Gesellschaft und die zahlreichen aus Berg-Karabach nach Armenien Geflüchteten noch immer unter dessen Folgen. Wertvolle Unterstützung erhalten sie aus der Diaspora und von ausländischen Hilfswerken.
Weiterlesen

Anlässlich eines vom Konfessionskundlichen Institut in Bensheim initiierten Fachgesprächs über Gefährdungen der christlichen Kulturdenkmäler in Berg Karabach haben Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen einen Aufruf zum Schutz dieser Kulturgüter verabschiedet.
Weiterlesen

Am 10. November hat ein von Russland vermitteltes Waffenstillstandsabkommen den mehrwöchigen Krieg um Berg-Karabach beendet. Harutyun Harutyunyan schildert die aktuelle Lage sowie die Reaktionen der Gesellschaft und der Kirche in Armenien auf den Waffenstillstand.
Weiterlesen

Ende September ist der "gefrorene Konflikt" um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder ausgebrochen, die Kampfhandlungen fordern Tote und Verletzte. Harutyun G. Harutyunyan geht auf die Reaktionen der Armenischen Apostolischen Kirche ein.
Weiterlesen