Georgien: Kritik am kirchlichen Handeln angesichts der Proteste gegen die Regierung
Die orthodoxe Theologin Tamara Grdzelidze hat in einem offenen Brief das Patriarchat von Georgien dazu aufgerufen, sich angesichts der anhaltenden Proteste auf die Seite der Bevölkerung zu stellen. Die Gläubigen seien einzelnen Priestern und Hierarchen dankbar, die die Verfolgung der Demonstrierenden, die verhaftet, geschlagen und erniedrigt würden, verurteilten. Aber die Kirche als Ganzes sei auch gefragt – lediglich „Sorge“ zu äußern, reiche nicht. Anstatt von der Kanzel aus uneindeutige Botschaften zu verbreiten, sollte die Kirche „auf die Straße gehen“, ihr Volk unterstützen und beschützen sowie Gewalt, die sich „gegen Menschen, vereint von der Liebe zu ihrer Heimat, richtet“, verhindern.
Die Verfasserin kritisierte zudem, dass Vertreter des Patriarchats an der Eröffnung des Parlaments teilgenommen hatten, obwohl die Parlamentswahlen von der Opposition und dem Ausland als manipuliert betrachtet werden. Die teils zu gewalttätigen Ausschreitungen eskalierenden Proteste in Georgien sind eine Reaktion auf die Ankündigung der Regierung, die Beitrittsverhandlungen mit der EU bis 2028 auszusetzen. Der Schritt der Regierung war wiederum eine Reaktion auf die Kritik der EU an den Parlamentswahlen. Grdzelidze kritisierte außerdem, dass das Patriarchat in seinen Botschaften die georgische Präsidenten Salome Surabischwili diskreditiere. Diese habe sich auf die Seite der Menschen gestellt, die ihre „europäische Zukunft verteidigen“.
Die Georgische Orthodoxe Kirche (GOK) hatte Anfang Dezember die Präsidentin in einem Statement direkt kritisiert, nachdem diese auf X die Schulen in Georgien dazu aufgerufen hatte, „ihre Solidarität mit den Protesten“ auszudrücken. Ihre Aussage sei „verstörend und besorgniserregend“, so die kirchliche Stellungnahme. Angesichts der Spannungen, die sich häufig in physischen Konfrontationen entlüden, sei die Ermutigung von Schüler:innen und überhaupt Minderjährigen, sich daran zu beteiligen, „extrem besorgniserregend“. Die Präsidentin sollte versuchen, die Polarisierung und den Hass zu „neutralisieren“, um die „mentale und physische Gesundheit künftiger Generationen vor den Ereignissen zu schützen“.
In einem weiteren Statement empörte sich die GOK über „blasphemische Akte und okkulte Rituale“ bei den Protesten. Dabei ging es unter anderem darum, dass bei einer Demonstration vor dem Parlament ein Sarg mit einem Jesusbild verbrannt wurde. Offenbar sollte der Sarg Bidsina Iwanischwili, den Gründer der Regierungspartei Georgischer Traum, die siegreich aus den umstrittenen Parlamentswahlen hervorgegangen ist, darstellen. Die GOK beklagte, dass der Hass zu „okkulten Ritualen und Akten der Zauberei“ eskaliert sei. Es sei „zutiefst bedauerlich“, dass solche Ereignisse die Gesellschaft weiter spalteten. Dabei handle es sich um beabsichtige Blasphemie. In der Kaschweti-Kirche am Schota Rustaveli-Boulevard, an dem auch das Parlament liegt, wachten die Geistlichen die ganze Nacht, um den Protestierenden zu helfen, und beteten mit ihnen, heißt es in dem Statement weiter. Daher würden derartige Rituale in der Nähe der Kirche als „mutwillige Provokation“ wahrgenommen, die die Gläubigen beleidigten.
Schließlich veröffentlichte am 13. Dezember auch Katholikos-Patriarch Ilia II. ein Statement, in dem er angesichts der Spannungen zu täglichen Gebeten in den georgischen Kirchen, aber auch zuhause aufrief. Alle Menschen stünden in der Pflicht, sich um Frieden zu bemühen, und alle müssten sich von Gewalt distanzieren. Eskalierende Spannungen stellten eine „echte Bedrohung für die wichtigste Errungenschaft unseres Landes – Staatlichkeit und Souveränität – dar“. Es sei entscheidend, mit konstruktiven Mitteln zu einem Dialog zu kommen, schrieb der Patriarch weiter. Mit Hass, Wut und Trotz seien keine Probleme zu lösen, damit werde nur dem Staat geschadet. Georgien sei ein „untrennbarer Teil der europäischen Zivilisation“, und es „ist unsere Pflicht, die Stärkung und Entwicklung eines Nationalstaats europäischer Art zu unterstützen, der auf unserem jahrhundertealten christlichen spirituell-kulturellen Erbe und traditionellen Werten beruht“, heißt es in dem Statement weiter. (NÖK)
Trotz beispielloser Massenproteste hat das georgische Parlament das umstrittene "Agentengesetz" verabschiedet. Die Georgische Orthodoxe Kirche hat uneindeutig auf die Proteste reagiert, erläutert Sophie Zviadadze im Interview.
Weiterlesen
Das Verfassungsgericht hat einige der rechtlichen Privilegien der Georgischen Orthodoxen Kirche als diskriminierend und verfassungswidrig eingestuft. Sophie Zviadadze gibt einen Überblick über den Status der religiösen Grupen in Georgien und die Tragweite des Urteils.
Weiterlesen