Russland: Gottesdienste in Wohnhäusern sollen verboten werden
Am 30. Oktober ist in Russland ein Vorschlag zur Anpassung des Gesetzes über die Gewissensfreiheit und religiöse Organisationen in die Staatsduma eingebracht worden. Dabei sollen Gottesdienste in „unbewohnten Räumlichkeiten von Mehrfamilienhäusern“ verboten werden. Das Verbot würde öffentliche Gottesdienste, religiöse Riten und Zeremonien in unbewohnten Räumen von Mehrfamilienhäusern betreffen, aber auch Gottesdienste systematischer Natur in Wohnräumen. Begründet wurde der Vorschlag der Fraktion „Neue Menschen“ damit, dass religiöse Zeremonien in Mehrfamilienhäusern die Bewohner störten und für die Eigentümer Unannehmlichkeiten und Befürchtungen mit sich brächten. Die Versammlung größerer Gruppen von „fremden Leuten, die nicht im Mehrfamilienhaus wohnen, darunter illegale Migranten“, berge das Risiko, dass die Kriminalität in der Umgebung steige, provoziere alltägliche Konflikte und verstoße gegen Normen des Brandschutzes und der gesellschaftlichen Sicherheit.
Äbtissin Ksenija (Tschernega), die Leiterin der Rechtsabteilung des Moskauer Patriarchats, forderte in einem Kommentar die Überarbeitung des Gesetzesentwurfs. Sollte der Vorschlag in der aktuellen Form angenommen werden, könnten die Kommunion, Krankensalbung und andere religiöse Riten, die Geistliche der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) in Wohnungen auf Wunsch von deren Bewohnern durchführen, verboten werden. Unter den Gläubigen, die diese Riten zuhause wünschten, seien Schwerkranke und Sterbende. Zudem müssten Hauskirchen, die sich in unbewohnten Räumen von Mehrfamilienhäusern befänden, geschlossen werden. Abgesehen davon teilt die Rechtsabteilung des Moskauer Patriarchats die „Besorgnis“ der Initianten über die Durchführung religiöser Riten in solchen Räumlichkeiten durch „Migrantengruppen, die nicht den Status einer juristischen Person haben“.
Die Journalistin und Orthodoxie-Expertin Ksenia Luchenko erklärte in einem Kommentar auf Telegram, dass der Gesetzesentwurf der ROK in die Hände spiele. Denn damit könnte man Orthodoxe, die nicht in der Kirche das Gebet über den Sieg hören wollten, daran hindern, sich zuhause zum Gebet zu treffen. Das Gesetz würde auch Geistliche der ROK, denen der Dienst verboten wurde oder die die ROK aus Gewissensgründen verlassen haben, und ihre Gemeindemitglieder treffen. Laut Luchenko gibt es in ganz Russland relativ viele orthodoxe Untergrundgemeinden, die schwer fassbar seien, da sie informelle Netzwerke bildeten. Indem es seine eigenen früheren Gläubigen und Geistlichen mithilfe der Sicherheitsbehörden aus der Legalität dränge, „kann das Patriarchat buchstäblich neue Verfolgungen beginnen“.
Auch andere Religionsgemeinschaften in Russland haben sich – meist kritisch – zum Gesetzesvorschlag geäußert. So lehnen die Adventisten ihn „kategorisch“ ab, da er gegen das verfassungsmäßige Prinzip der Gewissensfreiheit verstoße. Sie finden, es schaukle die Situation im Land auf und schaffe die Grundlage für soziale und interkonfessionelle Konflikte. Berl Lazar, der Hauptrabbiner Russlands, versteht die Befürchtungen der Initianten wegen der „Versammlung extremistischer Sekten“, aber es sei bereits möglich, ihre Aktivitäten nachzuverfolgen. Ebenso wie in einer Kirche sei es auch möglich zu verfolgen, was in einer Wohnung geschehe, wenn diese ein offizieller religiöser Ort sei. Ein Verbot würde daher dazu führen, dass religiöse Aktivitäten in Häusern weniger gut überwacht werden könnten. Nafigulla Aschirov, der Vorsitzende der Geistlichen Administration der Muslime des asiatischen Teils von Russland, bezeichnete Gebetsräume in Wohnhäusern als erzwungene Maßnahme aufgrund fehlender Moscheen. Er räumte ein, dass solche Gebetsräume manchmal die Bewohner:innen störten. Die Lösung wäre, die Erlaubnis zum Bau offizieller Moscheen zu erteilen.
Die Russische Evangelische Allianz verwies darauf, dass es schon 2019 Versuche gegeben hatte, Gottesdienste in Privathäusern zu verbieten. Dagegen setzten sich Anwälte und Menschenrechtsaktivisten zur Wehr, und schließlich stufte das russische Verfassungsgericht die Initiative als verfassungswidrig ein. Das Gericht betonte, dass Gottesdienste in Häusern für kleine Religionsgemeinschaften, die keine eigenen Gebäude besitzen, sehr wichtig seien. Laut der Allianz verfügen viele protestantische Gemeinschaften nicht über eigene Räumlichkeiten für Gottesdienste, daher sei die Versammlung in Wohnhäuser logisch und üblich. Ein baptistischer Pastor aus Moskau gab zu bedenken, dass ein Verbot das Recht der Gläubigen auf Versammlung verletzen würde. (NÖK)
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